Ein Mittwochmorgen im Juli 2020: Die Bewohner der Markgrafenstraße schlummern noch in ihren Betten. Kaum ein Auto ist im Konstanzer Stadtteil Petershausen unterwegs. Kaum ein Auto? Nicht ganz – in der Markgrafenstraße stehen ein Dutzend Exemplare mit Blaulicht auf den Dächern. Um 5 Uhr morgens ist es mit der Nachtruhe vorbei.
„Plötzlich habe ich einen Knall gehört“, erinnert sich eine Anwohnerin. „Ich ziehe meine Gardinen auf und da stehen ganz viele Polizisten, die mich angucken.“ Mehrere Beamte seien in ihr Nachbarhaus eingedrungen. „Da standen mir meine Haare zu Berge. Das war Highlife und Konfetti“, erzählt sie.
Wie kam es zur Hausbesetzung?
Mit der Räumung endete eine rund dreitägige Hausbesetzung. Nach einer Demonstration gegen Wohnungsnot am Sonntag, 19. Juli 2020, hatten bis zu 40 Aktivisten das leer stehende Gebäude in der Markgrafenstraße mit der Nummer 10 besetzt. Mit ihrer Aktion wollten sie gegen hohe Mieten und den Wohnungsleerstand in Konstanz protestieren. Trotz Zweckentfremdungsgesetz hatte das Haus lange Zeit leer gestanden.
Die Pläne der Aktivisten: Im Erdgeschoss ein Café einrichten und die oberen Stockwerke für Wohnungen nutzen. Untätig blieben sie während der Besetzung nicht: Sie jäteten Unkraut im Garten hinter dem Gebäude, entfernten Wasser aus dem Keller, putzten das Haus und luden Anwohner sowie Schaulustige in „ihr“ Haus ein. “Wir sind gekommen, um zu bleiben', sagte ein Aktivist damals dem SÜDKURIER.

Nach der Besetzung stellte der Eigentümer des Hauses Strafantrag gegen die Aktivisten. Mehrere Polizeistreifen überwachten in den folgenden Tagen das Anwesen und die Umgebung. Laut Polizei verhielten sich die Hausbesetzer friedlich. Vorerst verzichteten die Beamten auf eine Räumung und beobachteten die Lage.
Was dachte die Bevölkerung über die Hausbesetzer?
Katharina Mundrzik, Mitarbeiterin der Bäckerei an der Ecke Markgrafenstraße und Sankt-Gebhard-Straße, erinnert sich noch gut an die Hausbesetzung. „Die Polizei war rund um die Uhr präsent“, sagt sie. „Das war für mich und viele Anwohner hier schon eine merkwürdige Situation.“
Vielen Anwohnern sei nicht klar gewesen, was dort im Haus passiere, so Mundrzik. „In der Nachbarschaft kursierten viele Gerüchte, es war eine angespannte Atmosphäre.“ Niemand hätte gewusst, ob die Aktivisten wirklich so friedlich seien, wie sie taten.

Näheren Kontakt zu den Hausbesetzern hatte die Nachbarin Waltraud Ramsperger. „Es war sehr aufregend, es ist immer etwas passiert“, erinnert sich die Rentnerin. An die Aktivisten hat sie überwiegend positive Erinnerungen. „Sie haben Musik gespielt, einen Teil des Hauses und den Garten hinter dem Haus wieder in Ordnung gebracht.“ Wie Ramsperger erzählt, hätten sie sogar bei ihr geklingelt und sich als „die neuen Nachbarn“ vorgestellt.
Von der Protestaktion selbst hält sie auch ein Jahr nach der Räumung wenig. „Die Hausbesetzung war nicht in Ordnung“, sagt sie. Die Wohnungsnot in der Stadt sei zwar groß, man müsse auf das Problem aufmerksam machen. „Aber nicht auf diese Weise“, sagt Ramsperger, „das fand ich nicht gut.“

Nach drei Tagen waren die „neuen Nachbarn“ weg
Rund drei Tage nach der Besetzung endete die Protestaktion mit der Räumung des Hauses. Dieter Popp, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Konstanz, war damals vor Ort. „Das war ein größerer Einsatz“, sagt er ein Jahr später auf SÜDKURIER-Nachfrage. „Es waren keine Medienvertreter vor Ort, nur Polizeibeamte und Helfer der Konstanzer Feuerwehr.“ Letztere befestigten nach der Räumung Holzplatten vor dem Hauseingang und den Fenstern, um eine Wiederbesetzung zu verhindern.

Mit wie vielen Beamten die Polizei vor Ort war, dazu gibt Popp auch ein Jahr nach dem Ereignis keine genaue Auskunft. Augenzeugen zufolge seien es aber deutlich mehr gewesen als die 14 Aktivisten, die laut Polizei friedlich ihre Besetzung aufgaben. Auf die Frage, warum die Polizei mit einem so hohen Aufgebot bei der Räumung war, sagt Popp: „Wir haben mit allen Eventualitäten gerechnet.“ Die Räumung des Hauses sei dann aber anders verlaufen, so der Polizeisprecher. „Das ging sehr einvernehmlich.“
Was ist aus dem Haus geworden?
Ein Jahr später: Der Putz des Hauses in der Markgrafenstraße bröckelt von der Hauswand, die Jalousien sind heruntergezogen, ein Stromkabel guckt aus der Fassade hervor. Nur noch eines der Fenster ist mit einer Holztafel verriegelt. Auf dieser steht der Schriftzug ACAB (Anm. d. Red.: steht für „All cops are bastards“, englisch für: Alle Polizisten sind Bastarde). Ein Blick ins Gebäude: Dort liegen Bauschutt und Werkzeuge.

Auf der Rückseite des Gebäudes: Unkraut sprießt zwischen Pflastersteinen. Eine Schubkarre steht im brachliegenden Beet. Ein Hammer-und-Sichel-Symbol prangt noch immer an der Hauswand. Wie eine Anwohnerin sagt, kümmere sich eine Person in unregelmäßigen Abständen um Garten und Haus. Es scheint, es als hätte sich seit der Räumung des Hauses kaum etwas verändert. Aber stimmt das?
Warum scheiterte der Verkauf des Hauses an die Stadt?
Der Eigentümer des Hauses an der Markgrafenstraße ist nicht erreichbar. Zwar steht an der Klingel des Hauses noch immer der Name des ehemaligen Versicherungsbüros, das er dort einmal betrieben hat. Die Telefonnummer, die im Internet auf einem Branchenportal zu finden ist, ist nicht vergeben. Der angegebene Link zu einer Internetseite führt ins Leere.

Wie die Pressestelle der Stadtverwaltung Konstanz auf SÜDKURIER-Nachfrage erklärt, handele es sich um einen Konstanzer Eigentümer. Mehr dürfe man aus Gründen des Datenschutzes aber nicht verraten. Auskunft kann sie dagegen zur Situation des Hauses geben. Noch im vergangenen Jahr sei geplant gewesen, dass die Stadt oder die Wohnungsbaugesellschaft Wobak die Immobilie kaufe.
Aber daraus wurde vorerst nichts. „Die Verhandlungen waren nicht zielführend“, erklärt Walter Rügert, Pressesprecher der Stadtverwaltung auf SÜDKURIER-Nachfrage. Das Liegenschaftsamt habe zwar mehrere Gespräche mit dem Eigentümer geführt, dieser habe aber nicht zu den Konditionen der Stadt verkaufen wollen, so Rügert.

Obwohl das Haus in der Markgrafenstraße eindeutig leer steht, liege aus Sicht der Stadtverwaltung weder Leerstand noch Zweckentfremdung vor. Der Grund: Laut Einwohnermeldeamt seien mehrere Bewohner an der Adresse gemeldet. Ob es sich dabei um einen Trick handele, um dem Zweckentfremdungsgesetz aus dem Weg zu gehen, könne man nichts sagen, erklärt Pressesprecher Rügert: „Wir müssen uns da an die Fakten halten, für uns ist das Haus bewohnt.“
Nach den gescheiterten Verhandlungen plane die Stadtverwaltung vorerst keine weiteren Schritte bezüglich des Hauses. Die Stadt Konstanz hätte aber nach wie vor Interesse an einem Erwerb der Immobilie, bestätigt Rügert. „Wir würden da weiterhin in Verhandlungen treten, das haben wir mehrmals kommuniziert.“
FGL kritisiert Stadt und will Enteignung des Eigentümers prüfen
Gemeinderatsmitglied Normen Küttner von der Freien Grünen Liste (FGL) steht dem bisherigen Vorgehen der Stadt Konstanz kritisch gegenüber. „Das geht einfach nicht“, sagt er zum Leerstand in der Markgrafenstraße. „Es ist eine soziale Verpflichtung, Wohnraum in einer Stadt wie Konstanz zu bieten“, so der FGL-Stadtrat. „Ich finde es auch unsolidarisch, wenn Eigentümer ein Gebäude so lange leer stehen lassen.“ Es gäbe genügend Konzepte, wie das Haus genutzt werden könnte.

Zum Jahrestag der Räumung soll in der Gemeinderatssitzung am Donnerstag über den Sachstand bei dem Haus berichtet werden. „Die FGL hat eine Anfrage bei der Stadt eingereicht“, sagt Küttner. In diesem Zusammenhang wolle die Fraktion auch prüfen lassen, welche rechtlichen Grundlagen für eine Enteignung gegeben sein müssen. „Eine Enteignung ist zwar ein scharfes Schwert, aber die Stadt muss bei diesem Fall einfach konsequenter sein.“
Küttner unterstreicht aber zugleich, dass seit der Besetzung des Hauses im vergangenen Jahr seitens der Stadt einiges in der Wohnungspolitik passiert sei. „Die Hausbesetzung war zwar formell ein Rechtsbruch, sie hat aber die Finger in die Wunde gelegt.“ Als Beispiel nennt er das Projekt Raumteilung, das die Stadt auf den Weg gebracht habe. Dabei soll Wohnraum für Menschen erworben werden, die auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt sind.
Konstanzer Eigentümer erhielten Anreize und Sicherheit, wenn sie Wohnraum für entsprechende Zielgruppen zur Verfügung stellen. Damit sei das Problem aber noch lange nicht beseitigt, betont Küttner. „Stadt und Gesellschaft sind weiterhin gefordert, dieses Problem zu lösen.“