1,67 Promille. 1,74 Promille. Gin-Orange, Wodka-Orange, diverse Mixgetränke. Oder: Einige Bierchen, eine Runde Shots, dann unterschiedliche süße Mix-Getränke, „nicht so wenige“. Es ist eine Party-Nacht Mitte Mai 2022. Gegen 3 Uhr morgens rasten zwei Mittzwanziger, ein Mann und eine Frau, am selben Ort aus und verletzen zwei Polizisten. Warum?
Die beiden Angeklagten
Sie sitzt neben ihrem Anwalt Christoph Nix, klein, dunkle lockige Haare, sehr jung. Es scheint, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Doch in der Anklage steht, dass der 25-jährigen Venezuelanerin vorgeworfen wird, einem Polizisten in den Genitalbereich getreten zu haben. Zudem habe sie gegen eine angeordnete Blutentnahme Widerstand geleistet.
Der zweite Beschuldigte sitzt seiner Mitangeklagten gegenüber, 28 Jahre, ein junger Mann, der früh den Vater verloren hat. Er wirkt verloren auf der Anklagebank. Eigentlich gehört er in den Hörsaal. Der junge Mann leidet unter massiven Erinnerungslücken. Er weiß noch, dass sein Kumpel sich erbrochen habe und eine Rettungswagenbesatzung sich um ihn kümmerte.
Was er vergessen hat: Er selbst hat die Sanitäter renitent von der Arbeit abgehalten, er wurde von der Polizei des Platzes verwiesen und ihm wurde untersagt, weiter Rad zu fahren. Das alles berichten die zwei Polizeibeamten als Zeugen im Gerichtssaal.
Die beiden jungen Menschen sind sich nach eigener Aussage zuvor noch nie begegnet. Doch in dieser Frühlingsnacht treffen sie wie schicksalhaft am Webersteig in Konstanz aufeinander. Der junge Mann schiebt sein Fahrrad nicht, wie von der Polizei zuvor angeordnet, sondern fährt: in Schlangenlinien.
Die Aussagen der Polizisten
Deshalb halten ihn die Polizeibeamten an, die Polizistin blockiert sein Rad und hindert ihn am Weiterfahren, wie sie im Zeugenstand berichtet. Da sich der 28-Jährige wehrt, verpassen ihm die Polizeibeamten Handschellen. In diesem Moment habe sich die „Gruppe um die Angeklagte“ eingemischt, „vielleicht in guter Absicht“, räumt ihr ebenfalls als Zeuge geladene Kollege ein.
Innerhalb weniger Momente befinden sich die Polizisten inmitten eines Gerangels. Die Angeklagte versucht, den betrunkenen Radfahrer dem Zugriff der Polizistin zu entziehen. Das sei ihr mangels Körperkraft aber nicht gelungen. Der Polizist versucht, sie von dem Angeklagten wegzuhalten, während die junge Frau aus Frust heftig um sich schlägt und tritt und dem Beamten schließlich einen Tritt in den Genitalbereich versetzt. Dann noch einen. Der Polizist erinnert sich auch an mehrere Tritte in den Oberschenkel.
Inzwischen habe der Angeklagte sein Rad losgelassen, sei auf den Boden gefallen. Beim Versuch, aufzustehen, habe der er sie in den Oberschenkel getreten, berichtet die Polizistin. Sie zieht sich einen Bluterguss zu. Als sie versucht, den Angeklagten am Boden unter Kontrolle zu bringen, wird sie zudem an den Knien verletzt.
Was ist mit den beiden jungen Menschen passiert? Und wie kam es der Angeklagten in den Sinn, sich in das Gerangel zwischen Polizistin und dem Radfahrer einzumischen?
Abschließend lässt sich diese Frage vor Gericht nicht klären. Der 28-Jährige erinnert sich an nichts und Christoph Nix, Anwalt der Südamerikanerin, versichert glaubhaft, dass sie sich noch nie im Leben etwas zu Schulden kommen ließ.
Angeklagte unter Tränen
2019 kam sie erstmals als Au-pair nach Deutschland, nachdem sie in ihrem Heimatland keine Perspektive mehr sah. Seit 2022 absolviert sie eine Ausbildung in einem sozialen Beruf. Einen Teil ihres Lohns schickt sie an ihre Familie nach Venezuela. Den Angeklagten hat sie noch nie zuvor getroffen, wie sie selbst versichert.
Christoph Nix fordert seine Mandantin zu Beginn der Verhandlung auf, von der Lage in Venezuela 2019 zu berichten. Damals studiert sie, während draußen auf den Straßen Proteste stattfinden. Die Polizei geht hart gegen die Demonstranten, viele davon Studierende, vor.
Die Angeklagte entscheidet zu diesem Zeitpunkt, dass sie ihre akademische Ausbildung in ihrer Heimat nicht fortsetzen will. Sie weint, während sie erzählt. Die instabilen politischen Verhältnisse machen ihr Angst. Opfer von Polizeigewalt wird sie aber nicht.
Angeklagter zeigt Reue
Auch der Angeklagte hat wenig Grund, etwas gegen die Staatsgewalt zu haben. Sein Studium an der HTWG Konstanz macht ihm Spaß. Mit Alkohol hat er normalerweise keine Probleme. Nur in dieser Nacht hat er so viel getrunken, dass er die Kontrolle verliert. Während der Verhandlung entschuldigt er sich unentwegt bei allen – auch dafür, dass Zeugen und Anwälte so viel Zeit aufwenden müssen, um sich mit ihm zu befassen.
Was macht die beiden also zu Komplizen? Nichts oder auch der reine Zufall, das entscheidet schließlich der Amtsrichter. Der Anklagepunkt der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung wird fallen gelassen.
Noch eine hässliche Szene trägt sich in dieser Nacht zu, die vor allem Verteidiger Nix intensiv diskutiert sehen möchte. Um 4 Uhr nachts, als sie bereits in einer Gewahrsamszelle sitzen, wird beiden Angeklagten eine Blutentnahme verordnet. Die junge Frau wehrt sich dagegen mit aller Körperkraft. Sie habe panische Angst vor Spritzen, erläutert ihr Anwalt.
War es notwendig, sie dazu zu nötigen? Auch diese Frage steht kurzfristig im Raum.
Beide werden verurteilt
Das Urteil schließlich spricht beide Angeklagte schuldig – und schont sie doch in der Strafe. Beide haben sich eines Angriffs auf und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte schuldig gemacht. Die 25-Jährige wird zu 80 Tagessätzen zu jeweils 20 Euro, der Student zu 65 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt. Die Strafen sind so angelegt, dass keiner der beiden um seine oder ihre berufliche Zukunft fürchten muss. Einen Eintrag ins polizeiliche Führungszeugnis gibt es nicht.
Kurz vor der Urteilsverkündung nutzen die Angeklagten die Chance, sich abschließend zu äußern. Beide entschuldigen sich, die junge Frau weint wieder. „Ich will, dass mir so etwas nie wieder passiert“, sagt der 28-Jährige. „Aus der Tat habe ich viel gelernt“, sagt seine Mitangeklagte, „ich kontrolliere mich jetzt besser.“
Als sie den Gerichtssaal verlassen, liegt Erleichterung in der Luft. Der Angeklagte zögert, bevor er aufbricht, und lädt seine Zufalls-Komplizin zur Pizza ein. Irgendwann. Cola oder Limonade oder Mineralwasser wird es wohl dazu geben. Nicht einmal ein Bier.