Nach der Folter muss er erst einmal eine rauchen, denn diese ist anstrengend. Mal erhitzt der heute 21-Jährige die Klinge eines Messers, verbrennt die Haut seiner Schwester und streut ein zitronenhaltiges Salz auf die Wunde. Er schlägt sie, manchmal benutzt er dafür einen Ast oder ein Kabel. Er tritt ihr mit dem beschuhten Fuß ins Gesicht, er sticht sie mit einem Kugelschreiber und einmal presst er einen Stift zwischen Ring- und kleinem Finger der linken Hand derart zusammen, dass der kleine Finger verkrüppelt.
Angeklagter sperrt seine Schwester monatelang ein
Falls die Schwester vor Schmerzen schreit, bindet er sie an Händen und Füßen, knebelt sie. Von ihrem Leid sollen die Mitbewohner in der Wohngemeinschaft in Konstanz nichts mitbekommen, deshalb auch wird der gelegentliche Gang zu Bad und Toilette überwacht. Jalousien verwehren den Blick von außen ins Zimmer, auf den Balkon darf die Schwester nicht und wenn der Bruder nicht zuhause ist, bleibt die Tür verriegelt. Sollte sie gegen seine Anweisungen verstoßen, droht er ihr mit dem Tod. Auch andere Familienmitglieder müssten dann leiden. Das geht so über mehr als vier Monate von Anfang Januar bis Mitte Mai 2022. Mindestens fünf Mal vergewaltigt er die damals 18-jährige Schwester.
Für die Eltern ist das alles nicht wahr. Vor dem Landgericht Konstanz beteuern sie, dass sich Sohn und Tochter nur ein paar Tage zusammen in Konstanz aufgehalten haben, ansonsten seien sie bei der neunköpfigen Familie in deren Flüchtlingsunterkunft in Schwäbisch Gmünd gewesen. Sie machen auf heile Welt, und welchen Druck sie dabei auf die Schwester ausüben, zeigt sich möglicherweise daran, dass diese vor Gericht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Allerdings wird nach ihrer Befreiung aus dem WG-Zimmer, die letztlich den Verdachtshinweisen einer Sozialarbeiterin zu verdanken ist, eine amtsgerichtliche Befragung aufgezeichnet. Die Präsentation vor Gericht ist nur schwer zu ertragen und bildet die Grundlage für den Prozess.
Die Angaben sind glaubhaft, was ein rechtsmedizinisches und sozialpsychologisches Gutachten stützen. Zudem passen die Angaben der beiden Mitbewohnerinnen in der Wohngemeinschaft ins Bild – zum Beispiel die großen Essensportionen, die ihr Mitbewohner in der Gemeinschaftsküche zubereitet und dann in sein Zimmer trägt. Die Angaben der Eltern dagegen sind widersprüchlich, oft antworten sie ausweichend oder lassen sich über Dinge aus, nach denen niemand gefragt hat.
Sohn als Oberhaupt der Familie
Für eine Polizistin, die an den Ermittlungen über die Hintergründe beteiligt ist, liegt die Ursache dieses Verhaltens daran, dass der Sohn in der Familie „fast schon vergöttert wird“. Die Rolle des Oberhaupts mag dabei daran liegen, dass der Junge im Alter von zehn Jahren allein bei seinem kriegsversehrten Vater in Syrien bleibt, während der Rest der Familie in die Türkei und später nach Griechenland flieht.
Später gelingt auch dem Sohn und dem beinamputierten Vater die Flucht, wobei das Kind schon früh die Aufgabe eines Alleinversorgers wahrnimmt. Mit 13 zieht er allein weiter nach Deutschland und sorgt dafür, dass die Familie 2020 nachziehen kann. In der Zwischenzeit hat er einen Hauptschulabschluss gemacht, er beherrscht die deutsche Sprache und ist in Verwaltungsangelegenheiten behilflich.
Gerne hätten die beiden Anwälte des Angeklagten fürsorgliche Intentionen ihres Mandanten geltend gemacht. Könnte es nicht sein, dass er beispielsweise das Handy seiner Schwester nur deshalb zerstört, weil darauf angeblich Bilder von ihr in leichter Bekleidung abgespeichert sind? Will er sie damit möglicherweise vor dem Unmut der Eltern bewahren? Doch die Winkelzüge der überaus schwierigen Verteidigung verfangen nicht, da der Sohn gleichzeitig zum Beispiel den Schulbesuch seiner Schwestern zu verhindern sucht.
Eben in diesen Wertevorstellungen sieht die Vertreterin des Konstanzer Jugendamts das Hauptproblem des 21-Jährigen. Kriegserfahrungen, die Fluchterlebnisse und die alles andere als altersgerechte Entwicklung erkennt sie als Probleme, doch im Kern geht es bei ihm um ein Menschenbild, in dem Frauen nichts bedeuten. Da müsse „massiv eingewirkt“ werden, doch auch das nutze nichts, wenn der 21-Jährige es selbst nicht wolle.
Wie sehr das zutrifft, zeigt sich bei der Urteilsverkündung. An der Begründung hat der Angeklagte kein Interesse, er redet sich in Rage und seine auf Arabisch geäußerten Worte in Richtung seiner im Gerichtssaal befindlichen Schwester lassen sich als Drohungen verstehen. Zum tumultartigen Ende des Prozesses trägt ferner die laute Klage und der Zusammenbruch des Vaters bei, weshalb zusätzliche Sicherheitskräfte herbeigerufen werden.
Am Ende folgte das Gericht der Empfehlung der Vertreterin des Jugendamtes und setzte die Strafe nach den Maßgaben des Jugendstrafrechts an. Der zur Tatzeit 20-Jährige wurde in fünf Fällen der Vergewaltigung sowie insgesamt 50 Fällen der Körperverletzung für schuldig gesprochen. Er muss für viereinhalb Jahre ins Gefängnis.