Das Glück hat mehrere Namen. Nikoll Puishi zum Beispiel. Oder Nikolaus Faller. Nicht zu vergessen Mendim Gashi und Michael von Thile. Aber auch namenlos kommt es vorbei. Um wen es sich beispielsweise bei jenem jungen Mann handelt, der am Samstagnachmittag zufällig die Seniorenwohnanlage in der Hardtstraße 8a passiert und entscheidend zur Lebensrettung der Bewohner beiträgt, ist nicht bekannt. Nikoll Puishi hat in dem herrschenden Chaos eine vage Erinnerung an ein Gespräch mit dem Radler, wonach dieser gerade vom Sport kommt und im näheren Umfeld des Brandorts wohnt.

Zwei Tage nach dem Brand herrscht noch immer Chaos. Michael von Thile versucht das Geschehen im Kopf zu sortieren, aber die Emotionen überwältigen ihn immer wieder. Der Mann ist Chef des ambulanten Pflegedienstes, der die sechs Bewohner betreut.

Das Haus ist nicht mehr bewohnbar. Das Inventar muss entsorgt werden.
Das Haus ist nicht mehr bewohnbar. Das Inventar muss entsorgt werden. | Bild: Hanser, Oliver

Am Samstag, 9. April, sind drei Mitarbeiter im Haus: Nikoll Puishi, Mendim Gashi und er selbst. Man ist mit der Übergabe beschäftigt, als der Brandalarm losgeht. Nikoll Puishi schaut nach und für ihn steht sogleich fest, dass irgendwo im Haus ein Feuer ausgebrochen sein muss. Danach geht alles rasend schnell. Nach Wahrnehmung von Michael von Thile und Nikoll Puishi dauert es keine drei Minuten, bis vor lauter Rauch nichts mehr zu erkennen ist. Mit der gleichen Geschwindigkeit breitet sich die Verzweiflung aus.

Pflegedienst-Leiter: „Einer braucht Hilfe und Du kommst einfach nicht hin“

Das Pflegeteam weiß, dass eine der Bewohnerinnen zu diesem Zeitpunkt in einem Sessel im Erdgeschoss sitzt, aber es gibt kein Durchkommen. Erst recht gilt dies für die Bewohner in den oberen Stockwerken. „Zu wissen, dass jemand Hilfe braucht und Du kommst einfach nicht hin“, sagt Michael von Thile und lässt den Satz unvollendet. Stattdessen fließen Tränen.

Michael von Thile, Leiter des ambulanten Pflegedienstes für die Seniorenanlage in der Hardtstraße, zeigt auch zwei Tage nach dem Brand ...
Michael von Thile, Leiter des ambulanten Pflegedienstes für die Seniorenanlage in der Hardtstraße, zeigt auch zwei Tage nach dem Brand tiefes Mitgefühl für die Bewohner: „Ich weiß gar nicht, welche Ängste die Bewohner gehabt haben.“ | Bild: Hanser, Oliver

Die Emotion gehört zum Konzept des Hauses. Bei den Bewohnern handelt es sich um schwerst pflegebedürftige Menschen, die rund um die Uhr betreut werden. Sie wohnen in Miete und Michael von Thile hat die Betreuung der Wohngemeinschaft nur übernommen, weil er den Hauseigentümer persönlich kennt und für diesen die Wirtschaftlichkeit des Hauses – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle spiele. Die Zimmer sind mit persönlichem Mobiliar der Bewohner eingerichtet, das Kochen übernehmen die Mitarbeiter des Pflegedienstes. „Ich hab‘ extra noch frischen Spargel eingekauft“, sagt Michael von Thile.

„Wir sind eine Familie“, ergänzt Nikoll Puishi, und diese Haltung macht ein Teil des Glücks aus. Denn Verantwortungsgefühl und emotionale Bindung sorgen für die im Verlauf des Brandes wie von selbst ablaufenden Hilfe. Die Mitarbeiter, Nachbarn und jener unbekannte Radfahrer bringen es in blindem Einverständnis fertig, dass die Katastrophe ausbleibt.

Nikoll Puishi hat am Wochenende schnell gehandelt und damit wahrscheinlich Schlimmeres verhindert.
Nikoll Puishi hat am Wochenende schnell gehandelt und damit wahrscheinlich Schlimmeres verhindert. | Bild: Hanser, Oliver

Als die Feuerwehr eintrifft, sind zwei der Bewohner schon außer Haus, einer steht auf dem Balkon – hier bekommt er Luft. Auch daran, dass die anderen drei gerettet werden können, haben sie Anteil. So gelingt es beispielsweise, im oberen Stockwerk eine Tür zu öffnen, so dass eine bettlägerige Person nicht im Rauch erstickt.

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Nachbar: „Der Mann wäre tot, wenn das nicht gelungen wäre“

Wie ist das möglich? Dazu ein Perspektivwechsel. Nikolaus Faller wohnt im Nachbarhaus und auch er bemerkt frühzeitig den Rauch. Schnell erkennt er die Gefahr und ist mit einer Leiter zur Stelle. Doch das frühere Mitglied der Konstanzer Feuerwehr beobachtet zugleich schier Unglaubliches. Er sieht, wie die „jungen Männer“ einen der Bewohner aus dem verrauchten Haus tragen, einer klettert die Fassade zu einem der Balkone hoch. „Brutal, wie die sich eingesetzt haben“, sagt er.

Aber auch sein Einsatz sorgt dafür, dass niemand ernstlich zu Schaden kommt. Über die Leiter gelangen die Helfer bis zu einem Balkon zum oberen Stockwerk, wo es einem von ihnen gelingt eine Tür zu öffnen. Dicker, schwarzer Rauch dringt nach draußen, an ein Eindringen ist jedoch nicht zu denken. Nikolaus Faller ist jedoch überzeugt, dass der Zimmerbewohner nur durch das Öffnen der Tür am Leben bleibt. „Der Mann wäre tot, wenn das nicht gelungen wäre“, sagt er.

Nikolaus Faller ist ein Nachbar der Senioren-Wohngemeinschaft in der Hardtstraße. Er hat Anteil an der Rettungsaktion und ist tief ...
Nikolaus Faller ist ein Nachbar der Senioren-Wohngemeinschaft in der Hardtstraße. Er hat Anteil an der Rettungsaktion und ist tief beeindruckt vom Einsatz der Helfer. | Bild: Hanser, Oliver

Nikolaus Faller behält während der Aktion übrigens einen kühlen Kopf – nicht zuletzt vermutlich wegen seiner Erfahrung als Feuerwehrmann. Wie schnell sich der Rauch ausgebreitet haben muss, zeigt sich daran, dass er keine Zeit für stabiles Schuhwerk hat. Er trägt Clogs und überlässt deshalb beim Besteigen der Leiter einem anderen ehemaligen Feuerwehrkollegen den Vortritt. Auch dieser übrigens kommt zufällig vorbei.

Viel Glück also und es hält während des gesamten Geschehens an. Als die Feuerwehr eintrifft, ist die enge Einfahrt zur Hardtstraße nicht versperrt. Sie ist gerade so breit, dass das Drehleiterfahrzeug der Feuerwehr bis zum Haus 8a durchpasst. Oft aber ist die Zufahrt zugeparkt oder durch die Ausnutzung der Parkfläche beengt.

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„Ich habe bestimmt schon hundert Mal deshalb angerufen“, sagt Nikolaus Faller. Während er das sagt, lässt sich ein Parkvorgang beobachten. Zunächst beengt der Kühler des Autos die Einfahrt, dann setzt der Fahrer ein Stück zurück, so dass die Zufahrt frei bleibt. Er ahnt vermutlich nichts von der Schicksalhaftigkeit seines Tuns.