Tatjana Zubar kann das Urteil einen Tag nach der Verhandlung noch immer nicht fassen. „Der Freispruch hat uns schockiert und sprachlos gemacht“, sagt sie, als der SÜDKURIER vor wenigen Tagen bei der Konstanzerin anruft. „Wir können das Urteil und die Begründung überhaupt nicht nachvollziehen.“
Am Dienstag stand ein 69-Jähriger aus dem Kanton St. Gallen vor dem Bezirksgericht Kreuzlingen. Angeklagt wegen fahrlässiger Tötung. Er war der Verursacher einer der schrecklichsten Unfälle der vergangenen Jahre in unserer Region, bei dem seine Frau als Beifahrerin verstarb. Das Unglück ereignete sich an Pfingstsonntag, 20. Mai 2018, kurz vor 13 Uhr in Scherzingen. Die Frau des Unfallverursachers verstarb noch vor Ort.

Die Thurgauer Zeitung hat über die Gerichtsverhandlung in Kreuzlingen berichtet. Augenzeugen schilderten dabei, wie der BMW des Beschuldigten erst einen Schlenker nach links gemacht habe, dann rechts auf den Bürgersteig gefahren sei. Etwa 60 Meter lang schien es, als habe der Lenker das Auto einigermaßen unter Kontrolle.
Dann streifte es einen Pfosten und beschleunigte. Der BMW überholte einen anderen Wagen und prallte mit 139 Stundenkilometern ungebremst in eine Verkehrsinsel. Durch die Wucht des Aufpralls hob das Auto ab und knallte frontal in einen entgegenkommenden Wagen.
In diesem Wagen saßen Tatjana und Nikolai Zubar
Das Ehepaar aus Konstanz war auf dem Weg ins Appenzellerland, um einen unbeschwerten Tag in der Natur zu genießen, wie es dem SÜDKURIER später erzählte. Doch dann knallt bei Scherzingen der BMW ungebremst in ihr Auto – und verändert ihr Leben von einer Sekunde auf die andere grundlegend.
Das Ehepaar Zubar wird ein Leben lang unter den Folgen des Unfalls leiden. Tatjana Zubar ist Klavierlehrerin und Organistin. Ihre rechte Hand ist nur noch eingeschränkt beweglich. Die meisten ihrer Schüler hat sie verloren, an Auftritte ist nicht mehr zu denken.
Nikolai Zubar hat 23 Operationen hinter sich, sein linkes Bein musste oberhalb des Knies amputiert werden. Er ist 61 Jahre alt und weiß nicht, wie es beruflich weitergehen soll. Wanderungen in den Bergen, wie die Zubars sie liebten, werden für sie nie mehr möglich sein.
Drei Jahre hat das Ehepaar darauf gewartet, dass der Unfall vor Gericht verhandelt wird. Sie hofften, dass ihnen dann Gerechtigkeit widerfahren, sie Schmerzensgeld erhalten und die immensen Kosten zurückerstattet bekommen würden, wie sie dem SÜDKURIER vor zwei Jahren erzählten. Die Unfallfolgen hatten sie an den Rand des finanziellen Ruins gebracht. Das löste eine große Welle der Solidarität unter SÜDKURIER-Lesern aus.
Richter: „Alles spricht für einen akuten medizinischen Notfall“
Am vergangenen Dienstag sitzen Tatjana und Nikolai Zubar im Verhandlungssaal des Bezirksgerichts Kreuzlingen. Sie hören, wie der Beschuldigte berichtet, dass er seit dem Unfall nicht mehr selbst fährt, obwohl er dürfte. Mehrmals habe er sich zu der Unfallstelle bringen lassen, doch es blitzte keine Erinnerung auf, sagt er.
Was am 20. Mai 2018 genau passiert ist, hat auch der Staatsanwalt nicht restlos klären können. Ausgeschlossen ist ein technischer Defekt, es waren auch weder Alkohol noch sonstige Drogen im Spiel. Und es gibt keine Hinweise auf einen Streit zwischen dem Ehepaar oder einen Suizidversuch. Vieles deutet dagegen auf eine plötzliche Bewusstlosigkeit hin.
Für das Gericht ist dabei wichtig, ob sich der körperliche Zusammenbruch angekündigt hat. Der Beschuldigte sagt „Nein“, er habe sich fit gefühlt. Er habe keine Vorerkrankungen, nur gegen Bluthochdruck nehme er Tabletten. Der forensische Gutachter hält eine akute Herzrhythmusstörung für wahrscheinlich. Eine solche käme plötzlich, ohne Anzeichen.
Für den Staatsanwalt gibt es jedoch zumindest Hinweise darauf, dass der Beschuldigte nicht während der ganzen Dauer des Unfalls bewusstlos war. So sei er eine kurze Strecke, etwa vier Sekunden lang, unauffällig gefahren. Es sei auch schwer, zu erklären, dass ein Bewusstloser noch Vollgas gibt und ein anderes Auto überholt.
Tatjana und Nikolai Zubar möchten den Unfallverursacher schuldig sehen. Er verstehe das, sagt der Vorsitzende Richter bei der Urteilsbegründung, wie die Thurgauer Zeitung schreibt. Doch: „Alles spricht für einen akuten medizinischen Notfall.“ Das Gericht hält es für überaus wahrscheinlich, dass der Beschuldigte plötzlich bewusstlos wurde und es ihm nicht mehr möglich war, das Auto zu stoppen. Eine Verletzung der Sorgfaltspflicht könne ihm jedenfalls nicht nachgewiesen werden.
Die Folgen des Urteils für die Zubars: Keine Wiedergutmachung
„Mein Mann, der die meisten dramatischen Schäden erlitten und infolgedessen sein Bein verloren hatte, hat nun keinen Anspruch auf eine Entschädigung und Schmerzensgeld gegenüber der Versicherung des Unfallverursachers“, erklärt Tatjana Zubar auf SÜDKURIER-Nachfrage.
Ob sie in Berufung gehen werden, wisse sie noch nicht. „Wir können das Urteil nicht akzeptieren, aber es würde auch weitere sehr hohe Kosten bedeuten, die wir nicht tragen können. Und vor allem meinem Mann geht es gesundheitlich sehr schlecht und diese ganze Situation ist mit einem enormen Stress verbunden.“
Drei Jahre lang hätten sie auf die Gerechtigkeit gewartet und nun seien sie einfach sehr enttäuscht und psychisch gebrochen, sagt Tatjana Zubar: „Zudem hat auch unser Anwalt gesagt, dass wir kaum eine Chance haben, wenn wir Berufung einlegen.“