Steigen wir mit gleich mit der aktuellen Debatte ein: An der Apotheke in der Wessenbergstraße wurde der Anfangsbuchstabe M entfernt, da steht nun „ohrenapotheke“. Wie ich gehört habe, will der Besitzer das M nicht wieder anbringen. Ist das ein Erfolg im Kampf gegen Rassismus? Rein rechtlich ist es nämlich Sachbeschädigung.
Serena Martins: Die Darstellung eines schwarzen Menschen an der Häuserecke ist im Kontext zur Apotheke das größere Problem. Die Figur sollte man so nicht präsentieren, nicht ohne sie in einen Kontext zur Kolonialgeschichte zu stellen.
Jehona Miftari: Die Apotheke heißt, wie sie heißt, und dann thront neben ihr eine Figur, die alle Stereotype zusammenfasst: Pechschwarze Haut, Bastrock, Speer, Schild, große rote Lippen, breite Nase. Das ist eine Art von Schwarz-Sein, die in unseren Köpfen schlummert, die wir gelernt haben durch Geschichten wie Pippi Langenstrumpf. Es beeinflusst unsere Wahrnehmung von schwarzen Menschen. Ich würde Serena zustimmen, dass das aufgearbeitet werden muss, zum Beispiel, indem man eine Tafel vor die Figur oder sie in eine Ausstellung stellt.
Serena Martins: Genau, die Figur ist ein Stereotyp. Früher war die weit verbreitete Annahme, dass alle schwarzen Menschen so aussehen – und sich dem Image entsprechend verhalten, wild und roh.
Glorianne Matumona: Schon in der Kindheit ist mir die Figur aufgefallen, weil sie für mich nicht wie ein Mensch aussah, sondern wie ein Tier. Dieser komische Rock, dieser Speer in der Hand, so ein Bild hatte ich nicht von Menschen. Heute denke ich: Was ist, wenn ein kleines Kind sowas sieht und danach eine schwarze Person? Schon Kinder haben Vorurteile gegen Schwarze und wir fragen uns, warum. Aber wenn wir ein Vorurteil an einer Apotheke stehen haben, an der täglich Eltern mit ihren Kindern vorbeigehen, braucht man sich nicht zu wundern. Die sogenannten „Mauren“ waren früher sehr beliebt aufgrund der Heilmittel, die sie nach Europa brachten. Aber: Dieser positive Aspekt steht in einem viel größeren, negativen Kontext, nämlich Kolonialismus und Sklaverei.

Heute sieht auch ein kleines Kind viele verschiedene Menschen im Stadtbild, unsere Gesellschaft ist diverser.
Jehona Miftari: Es hat ja nicht mit der Sklaverei geendet, diese Bilder wirken bis heute. Es gab die Minstrel-Shows in den USA bis ins 19. Jahrhundert, wo Weiße sich als Schwarze angemalt und sie als primitive, wilde Menschen gespielt haben. Darüber haben sich Weiße amüsiert, über die wahrgenommene Rückständigkeit von Schwarzen. Wir sehen heute in Filmen schwarze Menschen als Drogendealer oder anderweitig negativ konnotiert. Das hört nicht auf.

Was sind die historischen Fakten?
Kirsten Mahlke: Schwarze Menschen in Europa hatten über sehr lange Zeiträume hinweg nicht die gleichen Rechte wie Weiße, auch wenn sie hier und dort symbolisch als Heilsbringer gewürdigt wurden. Ist eine Figur an einer Apotheke Rassismus oder nicht? Das ist kein Meinungsstreit. Wir dürfen Meinung und wissenschaftliche Fakten nicht vermischen, gerade, wenn es um solche schwierigen und verletzenden Themen geht. Zunächst mal sollten wir uns, wie Serena Martins schon sagte, ansehen, was die historischen Fakten sind.

Und die wären in diesem Fall?
Kirsten Mahlke: Zunächst ist der Begriff Maure nicht nur positiv besetzt. Der Heilige Jakob, der Apostel, der in Santiago de Compostela verehrt wird, bekam im 9. Jahrhundert „Matamoros“ als Ehrentitel verliehen, „der Maurentöter“. Die christlichen Ritter wollten die iberische Halbinsel zurückerobern und unter rein christliche Herrschaft stellen, der Islam sollte Richtung Nordafrika zurückgedrängt werden.
Am Fuß der Statur liegen die abgeschlagenen Köpfe noch heute. Dass die christliche Bezeichnung „El Moro“, der Maure, eine Feindesbezeichnung war, ist also klar belegt. Und tatsächlich gibt es auch die Kehrseite dieses Feindbildes, die Ausnahme von der Regel sozusagen: die hochgeschätzten maurischen Heiler. Diese doppelte Zuschreibung, positiv und negativ, ist, was den Geist des Kolonialismus überhaupt auszeichnet. „Edel“ war der „Wilde“ nur, wenn er dem Eroberer dienlich war, alle anderen durfte man straflos versklaven, foltern, töten.
Aber was hat das mit der Apotheke in der Wessenbergstraße zu tun?
Kirsten Mahlke: Wenn Menschen sich darüber aufregen, dass das M von der Apothekenfassade genommen wurde, und sagen „Das ist übertrieben mit der Apotheke“, dann auch, weil es das Thema so verkürzt verhandelt. Die Figur an der Apothekenfassade ist so eine Art Sündenbock für sehr vieles, was nicht sichtbar ist.
Nämlich eine sehr lange Vorgeschichte: Dass Menschen aus Europa etwa nach Westafrika oder Südamerika gegangen sind und sich angemaßt haben, wirklich alles umzubenennen, was sie antrafen: Menschen, Länder, Flüsse, Berge. Die Leute zu versklaven, ihnen ihren Besitz, ihre Kultur, ihr Leben und Geschichte zu nehmen. Konstanz hat eine interessante Kolonialgeschichte, und die beginnt nicht 1884 mit der „Kongokonferenz“, als Deutschland als Nation in die Afrikakolonisierung eintrat, sondern ist viel älter. Es gibt Spuren der Konstanzer Kolonialgeschichte, die führen zurück ins Jahr 1516.
Was ist in dieser Zeit in Konstanz passiert?
Kirsten Mahlke: Wohlhabende Konstanzer Bürger haben sich an der spanisch-portugiesischen Eroberung Südamerikas inklusive Versklavung beteiligt. Ein Kaufmann namens Ulrich Ehinger handelte im 16. Jahrhundert mit mehr als 5000 Menschen aus Westafrika, dem heutigen Guinea-Bissau, Kongo, Togo und Benin. In der Zeit hatte Konstanz nur 5000 Einwohner. Er und diverse Geschäftspartner aus der Region ließ die Versklavten nach Südamerika verschleppen und in Bergwerken schuften, im heutigen Venezuela und in Mexiko ließ er Einheimische auf seinen Safran- und Indigo-Plantagen versklaven.
Warum wussten wir davon nichts?
Kirsten Mahlke: Erst jetzt geht es langsam los mit lokaler Aufarbeitung von Kolonialgeschichte, an vielen Orten. Das erscheint wie ein Gärungsprozess, der viele berührt. Andererseits: Es gibt keine Abkömmlinge der Ehinger mehr, man kann keinen haftbar machen, aber es ist doch ein Nachbar aus Konstanz gewesen, der ganz bedeutende Monumente hinterlassen hat, der hat hier Häuser gebaut und bezogen und Familienmitglieder mit seinem Erbe versorgt. Insofern hat der Profit aus der Sklaverei durchaus das Stadtbild geprägt.
Wo kann man die heute noch sehen?
Kirsten Mahlke: Von einem der bekannten Wohnhäuser der Familie Ehinger, dem Haus zur Leiter im Renaissance-Stil, ist leider nichts übrig, nur eine Tür. Sie wurde im Café des Rosgartenmuseums verbaut und zeigt, was sich Ehingers leisten konnten. Der Direktor der Städtischen Museen, Tobias Engelsing, hat übrigens auch einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung des Kolonialismus in Konstanz geleistet, und zwar im Ausstellungskatalog Die Zeppelins. Genfer und Aargauer Fabrikanten, Macaire, Herosé, Schlumperger und andere haben seit 1785 Baumwollstoffe bedruckt, die Indiennes, in Fabriken zwischen Seerhein und Dominikanerinsel. Diese Stoffe wurden teils als Währung im Sklavenhandel in Westafrika verwendet. So sind die Macairestraße, der Herosépark, die Dominikanerinsel auch koloniale Gedächtnisorte, die viel monumentaler sind als die Apotheke. Insgesamt wäre die Ausstellung, die wir planen, ein Anlass zu zeigen, dass Kolonialismus nicht überall auf die gleiche Weise verlaufen ist.
Serena Martins: Die Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte ist in den Schulbüchern vollkommen abwesend. Ich fände es gut, wenn es auch an die jüngere Generation mehr Angebote gäbe, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. So, dass das rassismuskritische Denken schon früh anfängt.
Kirsten Mahlke: Und wenn man vieles nicht weiß, führt das zu Argumentationen, die sich nur auf Gefühlsebene abspielen. Es geht nicht um eine Kollektivschuld, wegen der die gesamte westliche Welt auf einer Sünderbank sitzen und für immer schweigen muss, sondern, dass wir uns in der heutigen Gesellschaft informieren, Verantwortung übernehmen und unsere Geschichte wirklich kennenlernen wollen. Es gibt einen Konstanzer Stolz auf die Stadt. Und es ist eine sehr schöne Stadt. Man kann die Stadt lieben und trotzdem kritisch hinterfragen, was war und ist.