„Das glaubt man nicht, wenn man es nicht selbst gesehen hat“, sagt der Konstanzer Rechtsanwalt Gerhard Zahner. Er steht mit Hut und Aktenkoffer im Flur des Landgerichts und deutet auf die verschlossene Tür zu Saal 109.
Gleich beginnt das Berufungsverfahren wegen Nötigung und gefährlicher Körperverletzung. Vorherige Verfahren hatten bereits in Justizkreisen und der Öffentlichkeit Aufsehen erregt, weil sie nicht alltäglich sind – oder wie die Anwältin einer Angeklagten meint: Es handle sich bei den Beteiligten nicht um die „typischen verkrachten Existenzen“, sondern um gut situierte, akademisch gebildete Bewohner eines Seniorenwohnheims mit Seesicht.
Seit 2011 wird vor Gericht gestritten
Hinter der schicken Fassade brodelt es jedoch seit über zehn Jahren: Dutzende Anzeigen, wegen Körperverletzung und Nötigung, wegen Verleumdung, dazwischen eine Räumungsklage, belegen eine Atmosphäre, die dem Gebäude den Namen „Höllenhaus“ eingebracht hat. Seit 2011 dürfen sich Anwälte und Richter mit dem ungewöhnlichen Nachbarschaftsstreit befassen.
Doch ist es überhaupt ein Streit unter Nachbarn? Oder ist es ein Ehepaar, das andere Bewohner des Hauses mit Anzeigen bombardiert? Das gegen Richter, die nicht in ihrem Sinne urteilen, Dienstaufsichtsbeschwerden initiiert? Und auch der Presse, die über den Fall berichtet, mit Rechtsmitteln droht?
Bei allen Verfahren dabei ist nämlich immer eben jenes Ehepaar, das auch diesmal wieder auf der Anklagebank sitzt, während die anderen Beteiligten wechseln. Die Verhandlung am Landgericht wird deutlich machen: Es ist ein Streit, den die Konstanzer Justiz allein nicht lösen kann.
Anwalt: „Die Senioren sitzen in der Falle“
Im Saal 109 sollen an diesem Tag zwei der jüngeren Vorfälle verhandelt werden. Die angeklagte Ehefrau soll ihren fast 80-jährigen Nachbarn 2020 so weit getrieben haben, dass er in Folge einen Herzinfarkt erlitt. Einige Monate später soll sie mit ihrem Ehemann zwei Nachbarn geschlagen haben. Das Amtsgericht sprach die beiden in den Jahren 2020 und 2021 schuldig, doch sie haben Berufung eingelegt.
Anwalt Zahner kennt den Fall seit Langem. „Bei mir sitzen weinende Senioren im Büro“, sagt er. „Die sitzen in der Falle, sie können nicht weg, haben sich die Wohnung für ihren Lebensabend gekauft.“ Er und Anwalt Jürgen Derdus vertreten als Anwälte der Nebenklage zwei Senioren, die gegen das Paar Anzeige erstattet haben.

Insgesamt sind sechs der Bewohner als Zeugen geladen. Auf der Anklagebank sitzt die beschuldigte Ehefrau mit ihrer Anwältin, Yvonne Knaus. Der beschuldigte Ehemann ist mit eigenem Anwalt, dem Konstanzer Andreas Hennemann, vor Ort.
Ein Leben in Angst vor den Nachbarn?
Neun Stunden dauert die Verhandlung am Landgericht. Die Zeugen sagen einer nach dem anderen aus. Sie stellen das Ehepaar dar als Menschen, die ihnen Angst machen. Wegen denen einige von ihnen ihre Wohnung nicht verlassen, ohne vorher sichergegangen zu sein: Sie sind nicht da.
Yvonne Knaus, Anwältin der Angeklagten sagt im Plädoyer: „Die Zeugen versuchen, das Ehepaar als ein Monster darzustellen, das durch die Anlage geistert und alle tyrannisiert.“ Die Aussagen klängen abgesprochen.
Auch Rechtsanwalt Hennemann verweist darauf. „Ich hätte mir heute jegliche Frage an die Zeugen sparen können, ich hätte immer die perfekten vorbereiteten Antworten erhalten.“ Der Fall frustriere ihn. „Solche Belastungstendenzen habe ich in meiner Laufbahn noch nicht erlebt. Es wurde Dreck aus der Vergangenheit aufgewühlt, alle Zeugen haben auf das Ehepaar eingedroschen.“

Ehepaar hat keinen Entlastungszeugen dabei
Auffällig ist jedoch: Dieses Ehepaar hat keinen einzigen eigenen Zeugen mitgebracht, der belegen könnte, dass sie diejenigen sind, gegen die im Haus vorgegangen wird. Die Staatsanwältin entgegnet Hennemann: „Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Zeugen miteinander gesprochen haben. Es entspricht ja der absoluten Lebenserfahrung, dass man sich als Nachbar darüber unterhält.“ Und: „Es kommt ganz klar raus, dass mehrere Personen über Jahre Probleme mit dem Ehepaar haben.“
Die Sicht der Angeklagten? All das sei eine einzige Verschwörung gegen sie.
Es gibt Beweise zu den beiden Vorfällen. Zum Beispiel ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie die Angeklagte dem Rentner, der danach einen Herzinfarkt erlitt, die Tür zuhält. Notwehr, sagt sie. Der Rentner habe sie angreifen wollen und gerufen: „Ich krieg dich, du Drecksau, dann schlag ich dir den Schädel ein!“ Warum sie nicht durch die Kellertür direkt neben ihr geflüchtet ist – zumal der damals 78-Jährige Gehprobleme hat, während sie selbst gut zu Fuß ist, wird nicht klar.
Woher kommen die Hämatome?
Für den anderen Vorfall, während dessen das Ehepaar gemeinschaftlich zwei Senioren geschlagen haben soll, gibt es ebenfalls Dokumente. Ärztliche Atteste, die Hämatome bei den Angeklagten dokumentieren und belegen sollen, dass sie die eigentlichen Opfer waren. Die Staatsanwältin überzeugte dies nicht. Vor allem, dass der Angeklagte kurz vor dem angeblichen Übergriff zweimal gestürzt ist und sich auch so die Hämatome habe zuziehen können, lasse Zweifel aufkommen.
Der Richter Tasso Bonath und die zwei Schöffen sprechen beide Angeklagten erneut schuldig wegen Nötigung und gefährlicher Körperverletzung und bestätigen die beiden Urteile des Amtsgerichts.
Am Ende, als die Lichter in den anderen Sälen schon längst erloschen sind und der Wagen der abendlichen Putzkolonne durch die Flure rollt, fällt zwar ein Urteil. Über 10.000 Euro muss das Ehepaar zahlen, außerdem die Kosten für das Berufungsverfahren. Doch den Nachbarschaftsstreit beenden wird das nicht: Allein im Jahr 2022 gab es drei neue Vorfälle, die zur Anzeige gebracht wurden.
„Verdammt nochmal, ändern Sie was!“
„Verdammt nochmal, ändern Sie was!“, appelliert Andreas Hennemann an alle. „Das kann nicht sein, dass Sie sich den Lebensabend verbauen und die Justiz beschäftigen.“ Auch Richter Tasso Bonath findet deutliche Worte: „Die Kammer leidet mit allen Bewohnern. Es ist sehr misslich und sehr schade, weil es eine sehr schöne Wohnanlage ist.“
Aber es läge leider nicht in der Macht der Kammer, das zu ändern. Dies könnten nur die Beteiligten. Ob die jedoch nun Ruhe ins „Höllenhaus“ einkehren lassen? Dazu meinte der Richter: „Die Kammer hat erhebliche Zweifel, dass insbesondere die Angeklagten dies wollen.“
Viele der Bewohner leiden unter dem Konflikt
In der Seniorenwohnanlage leben fast 30 Parteien. Die meisten davon meiden den Konflikt und sind friedlich und respektvoll. Doch auch sie leiden unter der Situation. Die Angehörige einer Bewohnerin sagt dazu: „Werden die Senioren gefragt, wo sie wohnen, wollen die meisten Leute nach der Antwort nichts mehr mit ihnen zu tun haben.“ Die Folgen: Einsamkeit, Angst, Misstrauen.