Eine Netzkamera, ein Handy, ein Laptop. Das ist die Ausstattung, die in der Tagesstätte für Wohnsitzlose am Lutherplatz demnächst häufiger zum Einsatz kommen soll. Die Anlaufstelle für Obdachlose nimmt an dem Pilotprojekt „Digitale Teilhabe“ teil. Sie will herausfinden, wie sinnvoll bei Obdachlosen der Einsatz von Telemedizin ist, also die digitale medizinische Beratung und Fernbehandlung. Die Hoffnung ist, dass Wohnsitzlose einen besseren Zugang zur Versorgung bekommen. „Die Telemedizin kann hilfreich sein, um schnell etwas abzuklären“, sagt Jens Mattes, der Leiter der Tagesstätte für Obdachlose am Lutherplatz in Konstanz.

Zwei Stellen der Wohnungslosenhilfe des AGJ-Fachverbands der Erzdiözese Freiburg beteiligen sich am Versuch: die im Kreis Konstanz und die in Emmendingen. Nur die in Konstanz hat eine medizinische Ambulanz. Bürger helfen seit vielen Jahren mit, sie über Spenden zu tragen. Eine der zentralen Fragen ist: Wie sinnvoll und wichtig ist die Unterstützung durch die Krankenschwester der Ambulanz? Die Stuttgarter Vector-Stiftung initiiert und fördert das Projekt.

Für die AGJ Konstanz koordiniert die Sozialarbeiterin und Gesundheitswissenschaftlerin Anika Hemme das Projekt Telemedizin. Diese könne hilfreich sein, vor allem, wenn Fachleute der AGJ direkt zu Plätzen von Obdachlosen kommen, etwa in den Notunterkünften, und etwas rasch medizinisch abgeklärt werden müsse, sagt sie. Hemme berichtet von einem Obdachlosen, den sie jede Woche aufsuchen. Er habe einen offenen Fuß. Es sei sinnvoll, wenn ein Arzt die Sache betrachte, um einzuschätzen, ob eine Gefahr drohe. Manchmal haben Klienten auch Fragen, die nur ein Arzt beantworten könne.

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„Obdachlose tun sich schwer mit Wegen“

Wohnungslosigkeit und gesundheitliche Beeinträchtigungen hingen oft zusammen, erklärt Hemme. Die Gefahr, dass Probleme chronisch werden, sei groß. Denn Obdachlose hätten oft vielschichtige Probleme, auch psychische Belastungen, einen erschwerten Zugang zur Versorgung und manchmal Hemmungen, einen Arzt aufzusuchen. Es könne sein, dass sie im Wartezimmer Ausgrenzung erleben. Manche hätten auch Schwierigkeiten, einen Termin einzuhalten. Telemedizin könnte helfen, solche Barrieren zu überwinden.

„Obdachlose tun sich schwer mit Wegen.“ Oftmals gehe es bei Menschen von der Straße darum, vorher Versicherungsfragen zu klären. Auch bei der Telemedizin braucht der Patient eine Krankenkassen-Karte, damit alles abgerechnet werden kann. Wie die Telemedizin mit Nichtversicherten umgeht, ist noch nicht erprobt. Das stehe auf der Liste der offenen Fragen. Auch die Angestellten der Tagesstätte müssten dazulernen. Für sie ist zum Beispiel die Handhabung der Geräte fremd.

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Über die deutsche Gesellschaft für Telemedizin versucht die AGJ, fünf Haus- und Fachärzte für das Projekt zu gewinnen. Sie sucht noch einen Arzt aus der Region, der sich beteiligt. Die bisherigen Erfahrungen: Niedergelassene Mediziner seien so beschäftigt, dass sie sich auch auf Anfragen nicht meldeten. Jens Mattes von der Tagesstätte am Lutherplatz hofft, dass sich über Telemedizin ein großes Problem beheben lässt.

Er weiß, wie schwierig es für alle geworden ist, bei einem Arzt zeitnah einen Termin zu bekommen. Telemedizin könnte ein Instrument sein, um ihn überhaupt zu erreichen. Der Mediziner könne dann auf digitalem Weg rasch ein Angebot machen, etwa einschätzen, ob eine offene Wunde am Fuß gefährlich werden kann.

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Das Experiment dauert bis Ende Oktober

Mattes beteuert: Die medizinische Ambulanz werde aktiv eingebunden. Es gehe nicht darum, diese zu ersetzen. „Die persönliche Ansprache und die Beziehungsarbeit sind wichtig.“ In der medizinischen Ambulanz arbeitet eine Krankenschwester, die Kontakte zu den Menschen auf der Straße knüpft. In der Tagesstätte in Konstanz engagiert sich zudem ein Arzt ehrenamtlich. Es gehe darum, noch ein zweites Standbein aufzubauen, sagt Mattes. Das Experiment dauert bis Ende Oktober.

Die zentrale Frage: „Kann das überhaupt funktionieren?“ Mattes sagt: „Wir wissen es nicht. Deshalb erproben wir es.“ Bei großer Nachfrage werde das Projekt mit Sicherheit auch nach dem Ende weitergeführt. Nicht ausgeschlossen ist, dass die Nachfrage so gering ist, dass es eingestellt wird. Doch davon gehen Hemme und Mattes derzeit nicht aus. Im jetzigen Projektstadium gehe es darum, einen Telemediziner im Landkreis zu gewinnen und geeignete Klienten auszusuchen.

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Telemedizin ist seit 2018 für Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland ohne vorherigen persönlichen Erstkontakt erlaubt. Seit diesem Jahr gibt es weitere Regeln für die Videosprechstunden. Bisher richte sich das Angebot vor allem an Menschen aus ländlichen Regionen oder mobilitätseingeschränkte Patienten. Zum Leistungsumfang gehören Videosprechstunden, um mit Patienten zu reden und diese zu behandeln, die Fernüberwachung von Werten bei chronisch Erkrankten sowie Rückmeldungen von medizinischem Personal.

Dazu kommt die Unterstützung bei Rehabilitation. Therapeuten stehen dann zum Beispiel als Ansprechpartner zur Verfügung und verordnen aus der Ferne Übungen. Im Bereich psychischer Gesundheit kommt Telemedizin am häufigsten zum Einsatz. Kritisch gesehen werden der fehlende körperliche Kontakt und die Beeinträchtigung der persönlichen Beziehung zwischen Patient und Arzt. Die AGJ-Verantwortlichen hoffen aber, dass sich für Obdachlose über die Telemedizin der Zugang zur medizinischen Versorgung verbessert.