Im Radolfzeller Werk des Automobilzulieferer BCS Automotive Interface Solution gibt es unter Beschäftigten einen internen Code. Er lautet wahlweise „24 plus zwei“ oder „25 plus eins“ und besagt in beiden Fällen das selbe: Im Jahr 2026 wolle der Mutterkonzern Luxshare für Radolfzell den Stecker ziehen und den BCS-Standort schließen.

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In diesem Code kommt die Haltung derjenigen zum Ausdruck, die ohne positive Erwartung oder Hoffnung als Arbeitnehmer in die Zukunft blicken. Diese negative Sichtweise hat Nahrung bekommen, weil Geschäftsführer Daniel Martinez sich von seiner Aufgabe als General Manager Europe bei BCS zurückgezogen hat und den Standort Radolfzell künftig zu einem großen Teil von seinem Homeoffice in Barcelona aus und im Team mit Antoni Ferrer leiten will.

Von guten und bösen Mächten

Manche sehen in dieser persönlichen Entscheidung auch ein Indiz, dass Luis Carlos Gonzalez als Entscheider in Strategiefragen der neue starke Mann im BCS-Konzern ist. Auf ihn, so heißt es, würden die Chinesen setzen. Und damit sind die Rollen „good cop, bad cop“ gleich verteilt. Der Mexikaner Gonzalez gilt in Kreisen der Radolfzeller Beschäftigten als Manager, der wenig von Deutschland als Standort hält. Zu strenge Gesetzgebung, zu viel Arbeitnehmerschutz, deutsches Arbeitsrecht generell seien nicht sein Fall, hört man. Die Rolle des Guten nimmt eindeutig der Spanier Daniel Martinez ein, der seit seinem Amtsantritt in Radolfzell viel bewegt hat.

Über ihn sagt der Radolfzeller Betriebsratsvorsitzender Thomas Kummnik: „Wir sind mit Herrn Martinez sehr zufrieden als Geschäftsführer.“ Mit Martinez haben der Betriebsrat und die Gewerkschaft die Betriebsvereinbarung zur Standortsicherung ausgehandelt. Sie gilt bis Ende 2024 und beinhaltet eine Beschäftigungsgarantie für 450 Mitarbeiter und 30 Auszubildende. Zudem gibt es die Zusage des Mutterkonzerns Luxshare, in Radolfzell zwölf Millionen Euro zu investieren.

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Viel wesentlicher als die Betriebsvereinbarung ist für viele der Glaube und die Motivation, mit denen der „Chief Technologie Officer“ des BCS-Konzerns weltweit – also Martinez – in Radolfzell angetreten ist: Er hat als Ziel für das Werk die Neuausrichtung hin zu einem Technologiezentrum mit vollautomatischer Produktion ausgegeben. Doch auf dem Weg, dieses Ziel zu erreichen, hat die Nachricht von Martinez‘ Rückzug als General Manager Europa und die Übergabe dieses Aufgabenbereichs an Antoni Ferrer für Irritationen zumindest im Werk Radolfzell gesorgt.

Vor dem Firmensitz in Radolfzell: Standort-Geschäftsführer und Technikverantwortlicher Daniel Martinez (links) und der neue General ...
Vor dem Firmensitz in Radolfzell: Standort-Geschäftsführer und Technikverantwortlicher Daniel Martinez (links) und der neue General Manager Europa Antoni Ferrer. | Bild: Becker, Georg

Hinzu kommt die Entscheidung des Unternehmens, zwei von sieben Leiterplattenproduktionsanlagen nach Timisoara in Rumänien zu verlagern. Auch werde in Mexico ein großer Fertigungsstandort aufgebaut. Für manche im Betrieb ist das Anlass zur Vermutung, der Standort Radolfzell werde schlecht gemacht, um ihn dann nach Auslaufen der Bestandsgarantie schließen zu können. Der Betriebsratsvorsitzende Thomas Kummnik möchte sich zum jetzigen Zeitpunkt in der Öffentlichkeit zur Verlagerungsthematik nicht konkret äußern. Doch Kummnik legt die Linie fest: „Ein Ausbluten auf Zeit wollen wir nicht mitmachen.“ Der Betriebsrat werde sich dafür einsetzen, den Produktionsstandort in Radolfzell zu erhalten. „Wir würden gerne innerhalb von BCS ein Vorzeigebetrieb werden.“

Martinez: „Wir müssen unsere Hausaufgaben machen.“

Daniel Martinez nimmt die Sorgen und Nöte der Beschäftigten in Radolfzell ernst. Die Richtung bleibe unverändert. „Allerdings müssen wir als Standort hier in Radolfzell unsere Hausaufgaben machen.“ Es sei nötig, die Transformation weiter voranzutreiben. Für den Geschäftsführer bedeutet das Vollautomation in der Produktion und Entwicklung neuer Technologien. „Die ganze manuelle Fertigung muss raus aus Deutschland“, sagt Martinez bei einem Gespräch in seinem Radolfzeller Büro. Sie sei zu teuer. Er verweist auf die Entscheidung des deutschen Automobilzulieferer Kostal, der bis Ende 2024 drei deutsche Produktionsstandorte schließen will.

Ein weiteres Produkt für den Umsatz

Um ein düsteres Ende in Radolfzell zu vermeiden, bräuchte es für das Werk neben dem Regenlichtsensor ein weiteres hochtechnologisches Produkt, das mit einer hohen Stückzahl auch wesentlich zum Umsatz beitragen könne. „Und es muss vollautomatisch herstellbar sein.“ Der berührungssensitive Lenkradschalter sei zwar ein hochtechnologisches Produkt, werde aber nicht in diesen Dimensionen nachgefragt, die BCS bei der Umsatzfrage entscheidend helfen könnten. Geschäftsführer Martinez hat das zweite Produkt, das nahezu in jedem Auto zum Einsatz kommen könnte, schon als Prototyp auf seinem Tisch liegen, es ist eine im Auto integrierte Ladestation oder Ladefläche für Smartphones.

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Was es als Möbelstück fürs Zuhause schon gibt, ist für Ingenieure in der Automobilwelt eine Herausforderung. Es geht um Wärmeentwicklung und um Schnelligkeit beim Laden, aber auch um komplexe IT-Fragen. „Da ist das Thema Cyber-Security entscheidend“, sagt Martinez. Der Zugriff von außen auf das Smartphone und damit auf das Auto soll verhindert werden. Für Martinez ist die Produktion dieser Einheit ein Schlüsselprojekt für den Standort Radolfzell: „Wenn wir das Projekt nicht bekommen, dann mache ich mir auch Sorgen.“

Zeit für die Eltern

Das ist der technologische Weg, den Martinez mit BCS und Radolfzell gehen möchte. Daniel Martinez glaubt daran, dass er die Geschäftsführung persönlich digital von einem Büro in Barcelona mit Besuchen am Standort Radolfzell bewältigen kann. Er sei froh, dass Luxshare und die Eigentümerin Grace Wang ihm diese Möglichkeit angeboten und eingeräumt haben. Sonst hätte er wirklich gekündigt. „Meine Eltern sind 92 und 91 Jahre alt, sie brauchen mich jetzt.“ 25 Jahre sei er von zu Hause weg gewesen, nun habe er die Möglichkeit, seinen Eltern etwas zurück zu geben. „Und das ist vor allem Zeit.“

Das ist ein Arbeitsmodell, das nicht nur der Geschäftsführer für sich beanspruchen darf. Auch bei den Technikern und Entwicklern geht BCS in Teilen diesen digitalen Weg, Spezialisten arbeiten von ihren Wohnsitzen in Berlin, Frankfurt, München für BCS in Radolfzell. Auch das sei eine Herausforderung auf dem Weg zum Technologiestandort, sagt Martinez: „Wir finden Leute, aber nicht so schnell, wie wir möchten.“