Haben zwei junge Männer einen Jungen und dessen Vater brutal verprügelt und dabei sogar eine Glasflasche und einen Schlagring benutzt? Diese Frage musste jüngst das Amtsgericht Radolfzell in einem Fall von gefährlicher Körperverletzung klären – was sich jedoch wegen teils wirrer Zeugenaussagen als gar nicht so einfach erwies.

Die angeklagten und inzwischen 25 beziehungsweise 20 Jahre alten Brüder aus Radolfzell sollen, so die Schilderung der Staatsanwaltschaft, am 2. September 2023 nach dem Aussteigen aus dem Schienenersatzverkehr in Singen zunächst einen inzwischen 16-Jährigen und danach dessen eingreifenden Vater angegriffen haben. Die Folge: Der Vater erlitt zwei schwere Platzwunden, sein Sohn brach sich beim Zusammensacken nach den Schlägen das Bein. Auch drei Mädchen, die mit dem Jungen unterwegs waren und helfen wollten, erlitten Verletzungen.

Vom Urlaub auf die Anklagebank

Doch nach den Aussagen aller Zeugen ist klar: Ganz genau so, wie von der Staatsanwaltschaft angenommen, hat sich der Vorfall wohl nicht zugetragen. Stattdessen gibt es einen ersten Teil, über den sich alle nahezu einig sind. Und einen zweiten Teil, über den vieles auch nach zwei Verhandlungstagen im Unklaren bleibt.

So gesteht der 25-jährige Angeklagte in seiner Aussage vor Gericht den Angriff auf den 16-jährigen Jungen direkt zu Beginn ein. Er passierte laut Zeugenaussagen wohl so: Die beiden Brüder waren mit ihrer Mutter auf dem Rückweg aus dem Urlaub. Im Bus nach Singen sitzen sie in der Nähe der jungen Vierergruppe aus Stuttgart, die sich ein schönes Wochenende am Bodensee machen will.

25-Jähriger gibt Faustschläge gegen Jungen zu

Der 25-Jährige, der auch vor Gericht reizbar und aufbrausend wirkt, fühlt sich vom Lärm der Jugendlichen schon im Bus genervt. Beim Ausstieg eskaliert die Situation. Als die Mädchen den Gang blockieren, ruft er: „Yallah, verpisst euch.“ Eines der Mädchen reagiert: „Man kann auch bitte sagen.“ Von dieser Aussage und den „massiven und respektlosen Blicken“ des Jungen fühlt sich der 25-Jährige provoziert.

„Die Tat meines Mandanten ist eine Sauerei, die hart bestraft gehört“, sagt sogar sein Verteidiger Björn Bilidt.
„Die Tat meines Mandanten ist eine Sauerei, die hart bestraft gehört“, sagt sogar sein Verteidiger Björn Bilidt. | Bild: Andreas Kochloeffel

Also schlägt er mit den Fäusten zu, einmal, zweimal, immer öfter – vermutlich zehnmal. Sein benommenes Opfer kann sich nur noch auf den Beinen halten, indem es sich an einem Zaun neben der Bushaltestelle festhält. Die drei Mädchen gehen dazwischen, werden vom 25-Jährigen ebenfalls getroffen und geschubst. Eine von ihnen fällt auf den Jungen, sie gehen zu Boden, er bricht sich dabei das Bein.

Der jüngere Angeklagte, vor Gericht sehr ruhig und schüchtern, ist bis dahin nicht beteiligt, wie sich im Prozess herausstellt. Er versucht stattdessen sogar, gemeinsam mit der Mutter zu schlichten.

Kamen eine Glasfalsche und ein Schlagring zum Einsatz?

Danach beruhigt sich die Situation zunächst. Die beiden Angeklagten ziehen sich wohl zurück, laufen vom Bus weg. Die aufgelösten Mädchen rufen den Vater des Jungen an, der sie abholen soll und in der Nähe wartet. Dieser taucht plötzlich neben dem Bus auf – laut den Angeklagten „wutschnaubend“.

Wie der Streit erneut eskaliert, lässt sich vor Gericht nicht endgültig aufklären. Auch wie viel Zeit seit dem ersten Angriff vergangenen ist, schildert jeder anders. Klar ist: Plötzlich stehen sich der 25-Jährige und der Vater des Geschädigten mit erhobenen Fäusten gegenüber. In einer Rangelei bringt der Vater den 25-Jährigen zu Boden, türmt über ihm.

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Da erhält er einen harten Schlag auf den Hinterkopf – vermutlich vom jüngeren Angeklagten. „Mir war sofort klar, das war definitiv keine Faust“, schildert der 46-Jährige vor Gericht. Als er aufblickt, erhält er einen weiteren harten Treffer gegen die Stirn und geht benommen zu Boden, wo er laut eigener Aussage einen letzten Tritt ins Gesicht bekommt – vermutlich wieder vom jüngeren Angeklagten.

Zeugen widersprechen sich vor Gericht

Der Verdacht der fünf Opfer: Am Hinterkopf kam eine Glasflasche zum Einsatz, an der Stirn ein Schlagring, wie manche der Zeugen gesehen haben wollen. Ihre Schilderungen vor Gericht wirken jedoch konfus, sind widersprüchlich und weichen erheblich von ihren Aussagen bei der Polizei ab. Eine ärztliche Gutachterin bestätigt zwar vor Gericht, dass die Verletzungen des Vaters sehr wahrscheinlich nicht von einer Faust stammen. Sie geht von harten Gegenständen aus. Ausschließen könne man in der Medizin jedoch nichts.

Die Angeklagten widersprechen ohnehin. Der jüngere Bruder habe lediglich mit Faustschlägen und einem Tritt gegen den Kopf helfend eingegriffen. Ohne Schlagring. Und auch den finalen Tritt habe es nicht gegeben. Die Polizei fand bei einer Hausdurchsuchung keinen Schlagring und am Tatort auch keine Flasche. Somit sind in der Verhandlung weder Flaschen- noch Schlagringeinsatz nachzuweisen.

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Was ist tatsächlich passiert?

Doch das ist ohnehin egal. Denn sowohl Staatsanwaltschaft und Verteidigung als auch Richterin Julia Elsner interpretierten die Taten der Angeklagten im zweiten Teil des Kampfes als Notwehr beziehungsweise Nothilfe. Man könne nicht ausschließen, dass sie dies zumindest subjektiv so empfunden hätten. Der Angriff des Vaters stelle einen neue Situation dar, die man getrennt vom ersten Angriff bewerten müsse, so Elsner.

Das fordern Staatsanwaltschaft und Verteidigung

In den Plädoyers geht es daher am Ende nur um den ersten Angriff gegen den Jungen und den letzten Tritt gegen den Vater. Die Staatsanwaltschaft fordert für diesen Tritt für den 20-jährigen Angeklagten eine Verurteilung wegen einfacher Körperverletzung. Denn die Nothilfesituation sei zu diesem Zeitpunkt bereits zu Ende gewesen. Anders sieht das seine Verteidigerin Franziska Sorg, die auf Freispruch plädiert.

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Der 25-Jährige, der bereits vier Einträge im Bundeszentralregister hat und wegen Körperverletzung vorbestraft ist, ist laut Staatsanwaltschaft wegen einfacher Körperverletzung zu verurteilen. Wegen seiner einschlägigen Vorstrafe, dem fehlenden Anlass für den Angriff und seiner „ausgesprochen ungünstigen Sozialprognose“ fordert sie eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten – und zwar ohne Bewährung.

Björn Bilidt, Anwalt des 25-Jährigen, stellt zwar klar, dass die Tat seines Mandanten eine „Sauerei“ sei, die hart bestraft gehört – und zwar mit einer Freiheitsstrafe. Allerdings sei diese zur Bewährung auszusetzen, da sein Mandant keine schlechte Sozialprognose habe. Zudem stehe er das erste Mal vor Gericht und werde das erste Mal zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. „Die wirkt auch mit Bewährung abschreckend genug“, begründet er.

So fällt das Urteil aus

Richterin Julia Elsner folgt in ihrem Urteil den Verteidigern. Sie spricht den 20-Jährigen frei, dessen 25-jährigen Bruder verurteilt sie wegen Körperverletzung in vier Fällen zu seiner Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung. Er muss nun 1500 Euro an das 16-jährige Opfer bezahlen und ein Anti-Aggressionstraining absolvieren.

Richterin Julia Elsner erläuterte, dass nur der erste Angriff auf den 16-Jährigen strafbar war. Da die Zeuginnen für den zweiten Teil des Kampfes „unerklärliche Erinnerungslücken“ hätten und sich widersprachen, stehe hier die Aussage des Vaters gegen die der Angeklagten. Da die Aussagen des Vaters zum genauen Ablauf nicht vollständig überzeugten, sei unter diesen Umständen eine weitere Tat nicht nachweisbar. Zudem könne man eine Nothilfesituation auf dieser Basis nicht ausschließen.