Prügelstrafen in der Schule, Lochkarten als Datenträger im Büro, Armut in Kriegszeiten – von so manchen historischen Ereignissen oder längst überholten Alltagsgegenständen sind heute nur noch Erinnerungen übrig geblieben. Werden diese von den älteren Generationen nicht an die jüngeren weitergegeben, gehen sie verloren. Einen Beitrag gegen das Vergessen leisten, Erinnerungen wachrufen und die Gemeinschaft fördern, das will das Senioren-Erzählcafé der evangelischen und der katholischen Kirchengemeinde Radolfzell.

Ende 2023 wurde das Angebot ins Leben gerufen, seither lädt es Senioren in Radolfzell dazu ein, von der Vergangenheit und eigenen Erlebnissen in längst vergangenen Zeiten zu erzählen – und andere Menschen dazu, zuzuhören. Bald steht nun schon der nächste Termin an.

„Es geht um die Gemeinschaft“

Organisiert wird das Erzählcafé ehrenamtlich von Jutta und Ulrich Schmidt sowie Christa Frick. Entstanden sei es, nachdem es Anfragen für ein Angebot für Senioren gegeben habe, berichtet Jutta Schmidt von der evangelischen Kirchengemeinde. Sie habe früher bereits Trauercafés organisiert, so sei die Idee für ein neues Format gekommen: „Warum sollte man nicht auch ein Erzählcafé machen?“, habe sie sich gedacht.

Das könnte Sie auch interessieren

Also sei das neue Angebot mit Christa Frick von der katholischen Kirchengemeinde ins Leben gerufen worden – und zwar ökumenisch, also offen für jeden. Zwar gebe es zum Start und zum Abschluss einen christlichen Impuls, willkommen sei aber jeder unabhängig der Religion. Auch seien trotz des Namens nicht nur Senioren willkommen. „Es geht um die Gemeinschaft und das, was eint, und nicht um die Unterschiede“, sagt Ulrich Schmidt.

Prügelstrafen, NS-Zeit, alte Musikstars

Ein paar Mal im Jahr treffe man sich nun wechselnd im Gemeindesaal der evangelischen Christuskirche und im Friedrich-Werber-Haus hinter dem katholischen Pfarramt. Jutta und Ulrich Schmidt und Christa Frick moderieren die Runde, „damit jeder zu Wort kommt“ und jeweils zu einem übergeordneten Thema von seinen Erlebnissen berichtet.

Das könnte Sie auch interessieren

Zur Sprache gekommen seien bisher unter anderem schon Prügelstrafen in der Schule, die zum Teil auch sehr heftig ausgefallen seien, sowie die NS-Zeit. Ein Teilnehmer habe dabei sein altes Schulbuch aus der Kriegszeit mitgebracht. Aber auch über lustige Dinge sei gesprochen worden, etwa Konzerte ehemaliger Musikstars, die die Teilnehmer der Runde besucht hatten.

„Das ist ganz wichtig gegen das Vergessen“

„Es war richtig nett“, sagt Jutta Schmidt über die vergangenen Termine. Der Austausch sei eine Bereicherung. Das bestätigt auch der evangelische Pfarrer Alexander Philipp. Gerade für junge Menschen sei die Vergangenheit „unglaublich weit weg“, durch Erzählungen rücke sie aber näher. „Es wir viel bewusster, wie viel sich verändert hat und wie anders die Welt früher war“, sagt er.

Das könnte Sie auch interessieren

Zu Beginn hätten daher auch Schüler einer Radolfzeller Klasse am Erzählcafé teilgenommen. Geplant sei künftig auch der Besuch von Konfirmanden. „Im Idealfall gibt es einen Generationenaustausch“, erklärt Ulrich Schmidt. Für alle, die die Vergangenheit nicht selbst erlebt haben, sei es wichtig, Zeitzeugen zu hören. „Das ist ganz wichtig gegen das Vergessen“, betont Christa Frick.

Das könnte Sie auch interessieren

Gleichzeitig diene das Erzählcafé dazu, ein Miteinander und die Möglichkeit zum Austausch zu schaffen. Es sei eine Gelegenheit, sich nicht nur oberflächlich zu unterhalten. „Das endet auch nicht in einem Kaffeekränzchen“, versichert Christa Frick.

Es gibt vier Termine im Jahr

Derzeit organisieren die drei das Erzählcafé viermal im Jahr. Dass das Erzählcafé nicht öfters stattfinde, habe auch damit zu tun, „dass es ein relativ großer Aufwand ist“, sagt Ulrich Schmidt. Nicht nur das Thema müsse gefunden, sondern es müsse auch eine Bewirtung organisiert werden. „Es kann aber schon irgendwann sei, dass es wächst, wenn es genügend Helfer gibt.“ Man freue sich über helfende Hände, sagt auch Christa Frick: „Es könnte schon noch Mitstreiter vertragen.“

Bislang seien die Rückmeldungen nur positiv, berichten die Organisatoren. „Manchmal kommt erst im Gespräch die Erinnerung, die davor gar nicht da war“, schildert Ulrich Schmidt eine Erfahrung. Und zum Teil würden auch Erlebnisse geteilt werden, die anderswo vielleicht gar nicht zur Sprache gekommen wären. „Nicht jeder erzählt unbedingt an jedem Ort, wie er in der Schule verprügelt wurde“, nennt er ein Beispiel. Im Erzählcafé können aber auch solche Erinnerungen geteilt werden.