Es sind schwere Zeiten für die Kirchen: 368 Kirchenaustritte gab es laut dem Standesamt im Jahr 2021 in Radolfzell, 87 davon bei der evangelischen Gemeinde, 256 bei der katholischen Seelsorgeeinheit St. Radolt. Und bis Ende Februar 2022 wandten sich weitere 131 Radolfzeller von ihren Kirchen ab.
2021 sank die Zahl der Katholiken mit Hauptwohnsitz in Radolfzell auf rund 11.550 ab, das sind fast 350 weniger als 2020. Zum Vergleich: 2015 waren es noch etwa 13.070 Katholiken. In der evangelischen Gemeinde Radolfzell gab es 2021 noch knapp 4680 Mitglieder – rund 130 weniger als im Vorjahr und 610 weniger als 2015. Und nicht nur in Radolfzell nehmen die Zahlen ab: „Wir haben im Kirchenbezirk Landkreis Konstanz in den vergangenen zehn Jahren zwei Kirchengemeinden an Mitgliedern verloren“, berichtet der evangelische Pfarrer Christian Link von seiner Kirche. „Das hat viel mit dem demografischen Wandel zu tun“, erklärt Link – es gebe eben viele ältere Menschen. Sterben sie, verliert die Kirche Gläubige.
Was hinter den Austritten steckt
Für die Austritte gibt es aber andere Gründe: Während es früher selbstverständlich gewesen sei, einer Kirchengemeinde anzugehören, nehme diese Selbstverständlichkeit nun ab, so Link. Mehr Menschen würden nicht mehr in Gottesdienste gehen, sondern für sich selbst ihre Spiritualität suchen.
Und mit jeder Generation nehme diese Entfremdung von der Kirche zu. Der katholische Pfarrer Heinz Vogel nennt noch andere Gründe. „Unser Leben in der Gesellschaft hat sich verändert“, sagt er. Wenn Kinder etwa mehr Zeit in den Schulen verbringen, verändere sich auch ihr Freizeitverhalten. „Die Kinder sind auch einfach verplant“, so Vogel – es bleibt weniger Zeit für Kirche.
Austritte in allen Altersstufen
Die Skandale der Vergangenheit hätten zudem Auswirkungen. „Wir haben einen großen Einschnitt seit 2010 durch dieses Bewusstwerden von Missbrauch innerhalb des kirchlichen Kontextes.“ Das habe viele Gläubige zum Austritt bewogen. Und auch dass die Glaubenskongregation als eine der Zentralbehörde der römisch-katholischen Kirche im Vatikan den katholischen Priestern die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare verboten hat, sei als Grund angegeben worden. Auffällig: „Früher waren es mehr junge Leute, die ausgetreten sind, jetzt geht es durch alle Altersstufen“, sagt Heinz Vogel. Er betont aber auch, dass Kirche eben nicht gleich Kirche sei. „Das Schwierige ist, dass Menschen dann nicht differenzieren zwischen den Diözesen.“ Diese seien aber jeweils eigenständige Bereiche.
In der evangelischen Kirche treten nach solchen Skandalen Menschen ebenfalls aus, wie Christian Link erzählt. „Weil es eine Frage von Glaubwürdigkeit ist.“ Es sei wichtig, Opfern ernst zu nehmen und zu schützen. „Wir haben da versagt. Wir haben da nicht wirklich hingesehen.“ Das müsse sich ändern: „Jeder, der zu uns kommt, muss darauf vertrauen können, dass er sich in einem geschützten Raum bewegt“, so Link. „Es ist eine gemeinsame ökumenische Aufgabe, Vertrauen aufzubauen.“
Die Präventionsarbeit läuft
In der evangelischen Kirche habe es deshalb Schulungen gegeben, um gerade im Umgang mit Jugendlichen zu sensibilisieren und Präventionsarbeit zu leisten. „Wir gucken da genau hin“, sagt Christian Link. Auch Heinz Vogel berichtet von Präventionsarbeit in der Erzdiözese Freiburg. Es werde zum Beispiel mit dem Verein Wildwasser Freiburg zusammengearbeitet. „Die Coming-out-Bewegung und die Gespräche mit Opfern von Macht und Missbrauch im kirchlichen Raum haben sehr viel zum Umdenken gebracht“, glaubt er.
Um zudem wieder mehr Menschen anzusprechen, will die evangelische Kirche in Radolfzell in Zukunft neue Wege gehen, berichtet Christian Link. „Wir wollen uns mit der neuen Kirche neu aufstellen“, sagt er mit Bezug auf die aktuelle Renovierung der Christuskirche. Vorstellen kann er sich zum Beispiel, neue Formen der Gottesdienste zu entwickeln und Angebote zu machen, die es bisher nicht gab – auch, um die verschiedenen Altersstufen anzusprechen. „Für Kinder braucht es eine andere Kirche als für Jugendliche und für junge Erwachsene braucht es wieder etwas anderes“, ist Link überzeugt.
Dabei sollen zukunftsfähige Wege auch zusammen mit dem Gemeindemitgliedern entwickelt werden. „Wenn sich jemand einbringen möchte, ist er willkommen“, verspricht der Pfarrer. Dennoch – nicht alles soll anders werden. „Das Traditionelle wird es dabei immer weiter geben. Das ist ja nicht schlecht.“ Aber: „Es braucht daneben eben auch Formen von Gottesdienst, Gemeinschaft und Glauben, die anders sind.“
Kirche soll keine Parallelgesellschaft sein
Heinz Vogel sagt auch, „Gottesdienste haben sich schon immer verändert und werden sich verändern, weil wir Menschen uns verändern und das Leben uns prägt. Wir sind heute anders unterwegs als vor 50 Jahren.“ Er betont aber vor allem die Rolle der Gemeinschaft: „Es braucht die Menschen, die dafür brennen.“ Wenn sich jedes Gemeindemitglied als Teil eines Ganzen verstehe, man sich gegenseitig stärke, sich für gute Zwecke einsetze und engagiere, werde bewusst, was Kirche ausmache und was bei Austritten verlassen werden würde.
„Wenn eine Gemeinde Charme hat, ist sie anziehend und weckt Neugier“, so Vogel. Dabei versteht der Pfarrer die Kirchengemeinde aber nicht als Parallelgesellschaft. Viele Christen engagieren sich in anderen Bereichen der Gesellschaft, zum Beispiel in der Lokalpolitik, der Flüchtlingshilfe, Rettungsdiensten und Vereinen. Dabei würde jedes Gemeindemitglied selbst auch ein Bild der Kirche abgeben und sie mitgestalten. „Jede einzelne Person steht für das Ganze“, ist er überzeugt.