Wer, wann und warum eine Hauptrolle im Juli 1980 bei der Besetzung des alten Feuerwehrgebäudes spielte, das erscheint im Nachhinein betrachtet, oft dem Zufall geschuldet. Und vielleicht auch dem Charakter. Cordelia Martin ahnte am Morgen jenes 31. Juli noch nicht, dass sie am Abend eine Hauptrolle spielen sollte. Was sie am Morgen aber schon wusste, war, die Zeit der Besetzung des Feuerwehrgerätehauses dürfte zu Ende gegangen sein. Mit ihren 16 Jahren war sie so oft wie möglich dabei. „Immer, wenn ich frei hatte, bin ich hin.“ Doch tagsüber musste sie zur Arbeit, „ich hatte einen Ferienjob bei Allweiler„. Und da sah sie auf dem Weg zur Pumpenfabrik, wie die Polizei das Gelände am frühen Morgen rund um den Untertorplatz großflächig absperrte. „Es war klar, jetzt wird geräumt.“

Aus der Traum vom Jugendhaus

Was nur die Chefetage im Rathaus wusste: Nach der Räumung durch die Polizei rollte der Bagger an. An dem in der Fassadengestaltung und Dachform denkmalgeschützten Gebäude blieb kein Stein auf dem anderen. Mit dem Einreißen der Mauern fielen die letzten Träume der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in sich zusammen, in diesem Haus ein selbstverwaltetes Jugendzentrum einzurichten.

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Besetzer versammeln sich vor Ruinen

Der brutale Schnitt war politisches Kalkül. Ist das Haus weg, kann über seine Nutzung nicht mehr diskutiert werden. Der Weg zu einem neuen Verwaltungsgebäude für die Stadtwerke war – bautechnisch gesehen – geebnet. Am späten Nachmittag versammelte sich ein Teil der ehemaligen Besetzer vor den Ruinen. Mit der Entscheidung zum schnellen Abriss hatte die Stadt und insbesondere OB Günter Neurohr die Gefühle der Jugendlichen noch einmal richtig aufgewühlt.

Demonstranten rufen: „Hopp, Hopp – Neurohr stopp!“

Aus der Versammlung heraus bildete sich ein Marsch Richtung Marktplatz. Die Demonstranten skandierten: „Hopp, Hopp – Neurohr stopp!“ Aus der Menge flogen Farbbeutel, Obst, Gurken und Tomaten gegen das Rathaus. Das Fenster von OB Neurohr im ersten Obergeschoss ging zu Bruch. Die Demo zog weiter, auf der Kreuzung Bismarckstraße, Schützenstraße, Teggingerstraße kam es zum Sitzstreik.

„Packt die Rädelsführer“

Jochen Poth war weder bei der Räumung dabei, noch bei der Entstehung dieser ersten Demo. Tagsüber arbeitete er in seinem Ferienjob in einer Spedition. Nach Dienstende ging er in die Stadt, um zu sehen, was los war. „Ich war keiner von den harten Besetzern.“ Als ehemaliger Stammgast des geschlossenen Szenelokals Leierkasten war er aus einem einfachen Grund im Feuerwehrgerätehaus: „Wo was los war, da sind wir hingegangen.“ Kaum war Jochen Poth beim Sitzstreik eingetroffen, schon rauschte ein Mannschaftswagen der Polizei an. Er hörte, wie einer rief: „Packt Euch die Rädelsführer.“ Schon sei ein Polizist neben ihm gestanden und hätte ihn gefragt: „Und was ist mit Dir?“

Die jungen Leute machten mächtig Rabatz vor dem Polizeirevier an der Ecke Bismarck- und Brühlstraße, sie forderten lautstark die ...
Die jungen Leute machten mächtig Rabatz vor dem Polizeirevier an der Ecke Bismarck- und Brühlstraße, sie forderten lautstark die „Freilassung“ von vier Mitstreitern. Augenzeugen berichten, sie hätten noch nie so viele Polizisten in der Stadt gesehen, wie an diesem Tag. | Bild: SK-Archiv

Poths Antwort – „Was soll mit mir sein?“ – dürfte zu schnippisch ausgefallen sein. Er war als vermeintlicher Rädelsführer identifiziert und wurde „handgreiflich“ von zwei Polizisten an den Bus gebracht. Jochen Poth machte unangenehme Erfahrungen mit der Staatsgewalt und wie schnell eine solche Situation kippen kann. „Vor dem Bus gab es mit dem Schlagstock Schläge ins Kreuz.“ Zusammen mit drei anderen sei er dann in die Kellerzelle des Reviers gebracht worden.

Protest vor dem Polizeirevier

Jochen Poth sagt heute: „Die Polizisten waren jung und standen unter Stress.“ Das hätten er und die anderen Festgenommenen gespürt. Seit der Räumung am frühen Morgen waren viele Beamte an diesem Tag im Einsatz. Vor dem ehemaligen Polizeirevier gegenüber der evangelischen Kirche versammelten sich daraufhin die Jugendlichen. Lautstark forderten sie die Freilassung ihrer Freunde. Die Radolfzeller Polizeiführung wirkte selbst für die Demonstranten überfordert. Der Schichtführer befürchtete gar eine Stürmung des Reviers, er alarmierte erneut Kripochef Rainer Magulski.

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Der war bereits auf der Rückfahrt nach Konstanz, nachdem er am Morgen den Einsatz bei der Räumung des Feuerwehrhauses geleitet hatte. Als der Hilferuf aus dem Revier in Radolfzell kam, kehrte der Kripochef um. Dort klärte er zuerst die Verdachtslage gegen die vier Festgenommenen. Keinem konnte eine Straftat nachgewiesen werden, alle vier kamen frei. Dann sprach Magulski mit den Protestierenden draußen vor dem Revier. Er schlug den jungen Leuten einen Demonstrationszug unter dem Geleit der Polizei vor, um ihren Protest zu kanalisieren. „Meine Bedingung war, dass es ein absehbares Ende gibt“, erinnert sich Magulski an die Verhandlungen. Er forderte: „Mit Glockenschlag 22 Uhr gebt Ihr dann Ruhe.“

Eine traut sich, ins Polizeiauto zu steigen

Darauf gingen die Besetzer ein. „Ins Führungsfahrzeug stieg ein junges Mädchen ein, sie durfte den Weg durch die Stadt bestimmen“, berichtet Magulski. Das junge Mädchen war Cordelia Martin. Warum ausgerechnet sie es war, die in das Polizeiauto stieg? „Wahrscheinlich, weil ich die Einzige war, die sich getraut hat“, lacht Cordelia Martin. Um 22 Uhr löste sich die Demonstration auf. „Magulski hat den Konflikt beeindruckend gelöst“, erkennt Jochen Poth die Leistung des Kripochefs an.

An seine vorübergehende Festnahme bei den Protesten kann sich Jochen Poth noch gut erinnern.
An seine vorübergehende Festnahme bei den Protesten kann sich Jochen Poth noch gut erinnern. | Bild: Becker, Georg

Der Jugend hat die Lobby gefehlt

Jochen Poth (59) ist Architekt in Radolfzell, wir haben ihm zwei Fragen gestellt:

Herr Poth, wie beurteilen Sie die Besetzung 40 Jahre später?

Die Planung für die Stadtwerke an der Stelle war abgeschlossen und der Abriss politisch beschlossen. Von daher kam die Besetzung spät. Umso erstaunlicher war es, dass es so viel Unterstützung in der Bevölkerung gab. Wir hatten als Jugendliche wenig Lobby in Radolfzell. Der Wille, die Jugend in der Stadtmitte zu integrieren, war nicht vorhanden.

Wäre das Feuerwehrgerätehaus als Jugendzentrum geeignet gewesen?

Gut wäre eine Probezeit gewesen, in der man hätte beweisen müssen, dass ein autarkes Jugendzentrum funktionieren kann. Für eine längerfristige Nutzung hätten Auflagen wie Brandschutz und Denkmalschutz erfüllt werden müssen. Die Beheizung der Fahrzeughalle wäre nicht einfach gewesen. Aber bei gutem Willen irgendwie auch machbar.