Der Held kam aus dem Establishment. 40 Jahre nach der Besetzung des stillgelegten Feuerwehrgerätehauses für ein Jugendzentrum in Selbstverwaltung auf dem Untertorplatz in Radolfzell, erwähnen die damals beteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen noch heute einen Vertreter der Staatsmacht mit Respekt. Es schwingt sogar eine Spur Verehrung mit für einen, der in dieser Zeit der „natürliche“ Gegner war. Für Susanne Karg ist der Auftritt von Kriminalrat Rainer Magulski ins Gedächtnis gebrannt: „Nie mehr in meinen Leben habe ich so eine empathische Persönlichkeit bei der Polizei kennengelernt. Er kam zu uns ins Feuerwehrhaus und wollte mit uns reden.“

Begegnung auf Augenhöhe statt Belehrungen von oben herab

Das war der Unterschied. Magulski begegnete den Besetzern auf Augenhöhe, er wollte sie und ihre Handlung verstehen. Das war der Unterschied zu anderen Vertretern des „Establishments“. Politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich maßgebliche Gruppen waren Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre unter vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein oft gepflegtes Feindbild. Hinweise aus dieser Ecke waren verpönt. So auch im Juli 1980: Für die jungen Besetzer des Feuerwehrgerätehauses waren Vertreter dieser Schicht nur bedingt gesprächsbereit. In den Aufeinandertreffen mit Bürgermeister Franz Schanz, Oberbürgermeister Günter Neurohr oder dem Landtagsabgeordneten Klaus von Trotha kassierte die Generation Besetzer am Ende immer wieder Belehrungen und Vorhaltungen. Für das Establishment war ihr Vorgehen illegal, aber die Jugend wollte einen Raum für sich.

Sommer 2020 auf dem Untertorplatz: Rainer Magulski sagt, er habe viel Verständnis für die Jugendlichen gehabt.
Sommer 2020 auf dem Untertorplatz: Rainer Magulski sagt, er habe viel Verständnis für die Jugendlichen gehabt. | Bild: Becker, Georg

Rainer Magulski, geboren 1941 in Pommern und aufgewachsen im Schwarzwald, lebt heute in Allensbach. An die Geschichte mit dem besetzten Feuerwehrhaus in Radolfzell kann er sich noch gut erinnern. Er hat die Dinge in seinem Buch „Mein weiter Weg zum Projekt Weltbürger 21“ aufgeschrieben. Als Leiter der Kriminalpolizei Konstanz hatte er die Einsatzleitung für die angeordnete Räumung des Feuerwehrgerätehauses nach dem Beschluss des Gemeinderats am Abend des 29. Juli 1980 übernommen.

Die erste Räumung wird abgeblasen

Doch Magulski ging seinen Auftrag nicht so martialisch an, wie vielleicht erwartet. Heute würde man sagen, er wählte die Strategie der Deeskalation. Er wollte die Auseinandersetzung besänftigen und möglichst gewalttätige Aktionen vermeiden. Die schon für den 30. Juli angeordnete Räumung blies der Kripochef wieder ab: „Es waren zu viele Jugendliche da, mir erschien die Gefahr einer Gegenwehr zu groß.“

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Aber Magulski traute sich was. Er ging alleine in das Feuerwehrhaus, erklärte wer er ist und was auf die jugendlichen Besetzer zukommt: „Ich habe ihnen gesagt, dass die Räumungsverfügung da ist und dass die Räumung kommt.“ Er habe versucht, die Besetzer davon zu überzeugen, auf eine Gegenwehr zu verzichten. Magulskis „sympathische und faire Art“, so der damalige Besetzer Hubert Blum, erreichte sein Ziel. Die Besetzer stellten sich darauf ein, sich ohne Gegenwehr aus dem Gebäude tragen zu lassen.

Der Verzicht auf die Schlagstöcke

Der Kripochef setzte nach diesem Gespräch die Räumung auf den Morgen des nächsten Tags an. Um 5.30 Uhr am 31. Juli 1980 trafen 85 Schutzpolizisten und 15 Kriminalbeamte im neuen Feuerwehrgerätehaus an der Steißlinger Straße zur Einsatzbesprechung ein. Magulski nahm sich das Banner der Besetzer „Bitte keinen Schlagstock, wir tragen auch keinen“ zu Herzen und befahl seinen Männern, die Schlagstöcke nicht am Körper zu tragen, sondern in den Fahrzeugen zu lassen. Das Gelände um das alte Spritzenhaus ließ er weiträumig absperren. Um 6 Uhr trat Magulski mit dem Megafon vor das alte Feuerwehrhaus und forderte noch einmal die Besetzer auf, das Gebäude zu verlassen. „Einige kamen freiwillig raus, einige ließen sich fröhlich raustragen“, erinnert er sich.

Am Megafon: Einsatzleiter Rainer Magulski fordert um 6 Uhr morgens die Besetzer auf, das Feuerwehrhaus zu räumen.
Am Megafon: Einsatzleiter Rainer Magulski fordert um 6 Uhr morgens die Besetzer auf, das Feuerwehrhaus zu räumen. | Bild: SK-Archiv Liedl

Zwei Szenen von Gewalt gab es an diesem Morgen. Eine Aktion richtete sich gegen das Gebäude: Mitarbeiter des städtischen Bauhofes brachen mit Stemmeisen und Bickel eine Türe auf. Eine Aktion richtete sich gegen die Polizei: Oben im Trockenturm verschanzten sich zwei Besetzer und bewarfen die Beamten mit Kot und Brettern. Die Polizei beendete den Spuk mit Tränengas. Bis zu diesem Zeitpunkt war für den früheren Kripochef noch alles in Ordnung: „Ich empfand das als einen Einsatz, der noch einmal glimpflich verlaufen ist“, urteilt Magulski in der Rückschau. „Es gab einige vernünftige Leute, mit denen konnte man reden.“

Nach der Räumung folgt der Abriss

Doch dann passierte etwas, mit dem weder Magulski noch die jugendlichen Besetzer rechneten. Kaum war das alte Feuerwehrhaus durch die Polizei geräumt, fuhr der Bagger an. Das denkmalgeschützte Gebäude wurde noch am selben Tag auf Anordnung von OB Günter Neurohr niedergerissen. „Das hat mich dann schon überrascht. Vorher hieß es, zumindest Teile des Feuerwehrhauses werden erhalten.“ Noch einmal an diesem Tag lenkte der Kripochef die durch die Zerstörung ausgelöste Wut und Ohnmacht in friedliche Bahnen. Er überredete die aufgebrachten Jugendlichen zu einer Demo durch die Stadt „unter dem Schutz der Polizei„.

40 Jahre später äußert Rainer Magulski Verständnis für die Besetzung. „Ich hätte es als vernünftig angesehen, das attraktive Gebäude den Jugendlichen zu überlassen – aber das ist meine private Meinung.“

Die „Stadt“ holt sich ihren Besitz zurück: Mitarbeiter des Bauhofs brechen eine Türe des besetzten Feuerwehrhauses auf.
Die „Stadt“ holt sich ihren Besitz zurück: Mitarbeiter des Bauhofs brechen eine Türe des besetzten Feuerwehrhauses auf. | Bild: SK-Archiv Liedl

Abschied vom Traumberuf

  • Zu Rainer Magulski: In seinem Kurzprofil auf der Internetseite „Weltbürger 21“ bezeichnet Magulski Polizist als seinen Traumberuf. Dennoch ist er 1987 aus freien Stücken aus diesem Beruf ausgestiegen. „Aus politischen Gründen, vor allem der Art und Weise, wie der Bundestag mit verschiedenen Dingen umgegangen ist.“ In seinem Buch „Mein weiter Weg zum Projekt Weltbürger 21“ schreibt Magulski zu seinem Schritt: „Wenn die Parteien des Deutschen Bundestages die verdeckte Spendenannahme für Abgeordnete und politische Parteien 1986 unter Strafe gestellt hätten, hätte Helmut Kohl nicht auf diese demütigende Art abtreten müssen. Und ich wäre nicht aus dem Polizeidienst ausgeschieden.“
  • Zum Besetzer-Tourismus: 1980 gab es mehrere Hausbesetzungen in Deutschland. Und es gab darunter eine Klientel, die von besetztem Haus zu besetztem Haus zog. Auch im Feuerwehrhaus in Radolfzell waren welche darunter. Unter anderem die zwei, die aus dem Turm Fäkalien warfen.