Immer wenn, wie zuletzt wieder geschehen, der Pegel des Bodensees ansteigt, werden auf der Insel Reichenau Erinnerungen wach an das Hochwasser vor 20 Jahren. Damals war das Eiland quasi von der Außenwelt abgeschnitten und nur per Boot oder mit Bundeswehrfahrzeugen erreichbar. Spötter meinten, dass die Reichenau sogar kurzzeitig wieder eine echte Insel gewesen sei.
Dem widerspricht Gert Zang jedoch entschieden. „Die Reichenau ist immer eine Insel“, sagt der pensionierte Historiker, „Sylt würde trotz des Damms auch niemand als Halbinsel bezeichnen.“
Gert Zang weiß, wovon er spricht. Schließlich forscht er seit einiger Zeit über die Geschichte der Gemüseinsel. Und er blickt zurück in die Jahre, in denen es noch keine Allee und keine Verbindung mit dem Festland gab. Es ist die Zeit vor 1860.

In jenen Jahren war es ein gefährliches Unterfangen für die Reichenauer, ihre Insel zu verlassen. „Auf dem See gab‘s so stürmische Zeiten, dass er überhaupt nicht befahren werden konnte oder nur mit zwei Ruderern. Die machten mehr Tempo, die Überfahrt kostete aber auch das Doppelte“, sagt Zang. Die jetzige Kindlebildkapelle habe damals die Funktion gehabt, noch ein Gebet abzusetzen, um sicher übers Wasser zu kommen.
„Zu bestimmten Zeiten, etwa bei niedrigem Wasserstand, konnte man die Insel auf der Furt an der Stelle des heutigen Dammes aber trockenen Fußes oder mit Fuhrwerken erreichen“, erklärt der Historiker. Ganz ohne Risiko war das auch nicht, „denn es gab zahlreiche Untiefen“, so Gert Zang, „sicherer als der Wasserweg war es aber allemal.“
Als im Jahr 1838 offiziell mit dem Bau des Dammes begonnen wurde, gab es Bootsverbindungen nach Allensbach, Ermatingen, Radolfzell und auf die Höri. Auf manchen dieser Strecken waren die Preise festgelegt. Es war geregelt, was etwa der Transport von Vieh oder von einem Menschen kostete. „Außerdem gab es unterschiedliche Preise je nach Wetterlage“, sagt Zang.
Diese Regelung bestand bis 1860, ehe sich die Gewerbefreiheit entwickelte. „Danach wurden die Bootsverbindungen ein Privatgeschäft. Jeder konnte verlangen, was er will“, merkt Zang an. Auf dem Damm jedoch sollte es keine Zölle geben. „Er sollte allgemein nutzbar werden und wurde sehr wichtig für den Warenverkehr“, weiß Zang.
Also versuchte die Gemeinde, den neuen Weg Stück für Stück herzustellen. Dazu wurden in der Winterzeit, wenn die Ernte und Waldarbeiten beendet und der Wasserstand niedrig war, Reichenauer Bürger zwangsverpflichtet. Sie verbanden, ähnlich wie an den Bootslandestellen, Holzpfähle mit Weidengeflecht zu Rechtecken. Diese so genannten Faschinen wurden mit Kies gefüllt.
Das Problem dabei: „Es kam regelmäßig vor, dass Stürme oder der Wasserdruck den Damm zerstörten“, sagt Gert Zang. „In einem Fall war er fast in alle Einzelteile zerbrochen.“ Zunächst dachte der Historiker, dass der heutige Knick im Verlauf der Allee eine Reaktion darauf war. „Ich habe dazu aber in den Akten nichts gefunden. Der Damm folgt vermutlich schlicht den Bodenverhältnissen, also an den flachsten Stellen.“
Erst als Mitte der 1850er-Jahre die Eisenbahnarbeiten mit dem Brückenbau in Konstanz begannen, kamen Techniker in die Gegend, die eine Lösung wussten. „Ein Büro machte den Vorschlag, es mit flacheren Böschungen zu versuchen“, sagt Zang. Das hat funktioniert. „Wie am flachen Ufer konnte so das Wasser nicht den zerstörerischen Druck entfalten“, sagt Zang. Um das Erdreich zu befestigen, werden bis heute Schilf und Pappeln verwendet.
„Da es zu wenig Flächen für Getreide gab, konnte sich die Reichenau noch nie selbst versorgen und war schon immer auf Handel von Waren angewiesen, wie etwa Wein“, sagt Gert Zang. Die neue Verbindung zum Festland habe den Warentransport erheblich erleichtert. „Das war auch der Beginn des Fremdenverkehrs“, erklärt der Historiker.
1860 war der Damm schließlich auf dem heutigen Stand, er wurde nur noch ab und zu erhöht, bedingt durch die Motorisierung – und durch die eine oder andere Überschwemmung. Wie etwa 1965, als Menschen und Autos mit Pontonfähren nach Allensbach übersetzten.
Beim jüngsten Hochwasser vor 20 Jahren „hätten Pferdegespanne über den Damm fahren können, Autos jedoch nicht mehr“, sagt Zang. Das war schließlich auch der Grund für die vorerst letzte Aufschüttung – die des Sicherheitsdamms, der bei Niedrigwasser, also fast immer, für den Wahl-Reichenauer Gert Zang schlicht „ein schöner Radweg“ ist.