Gibt es einen Schutzengel für den Einzelhandel? Oder regiert das Gesetz des freien Marktes? In Singen wird seit 20 Jahren mit dem Einzelhandelskonzept ein Modell angewandt, das jetzt von der Gesellschaft für Markt- und Absatzforschung (GMA) beste Noten erhält. So bezeichnete der Geschäftsführer der Gesellschaft, Stefan Holl, das Konzept in der jüngsten Gemeinderatssitzung als „Erfolgsmodell“.
Im Singener Einzelhandelskonzept ist genau festgelegt, wer in welchem Teil der Stadt mit welchen Waren handeln darf. Da ist die Rede vom zentrenrelevanten Sortiment, das nur in der Kernstadt vertrieben werden darf. Dazu gehören etwa Textilien, Schuhe, Lebensmittel, Haushaltswaren, Unterhaltungselektronik und Kosmetikartikel.
Verhindern, dass attraktive Unternehmen aus der City abwandern
Und dann sind da noch die nichtzentrenrelevanten Artikel wie Möbel, Gartenbedarf oder Haushaltsgroßgeräte, Fahrräder, Autos und Baustoffe, die in der Fläche, also im Singener Süden, verkauft werden dürfen. Dieses Steuerungsinstrument gelte es beizubehalten, ist auch Oberbürgermeister Bernd Häusler überzeugt.
Mit dem Konzept schufen Gemeinderat und Verwaltung ein Hilfsmittel, um die Geschäftsansiedlung zu steuern. Damals bestand die Sorge, dass attraktive Unternehmen aus der Innenstadt auf die grüne Wiese abwandern oder durch den Wettbewerb verdrängt werden könnten. Der Exodus des Innenstadthandels wäre vorprogrammiert. So aber entstand durch das Einzelhandelskonzept zum Schutz der City ein bindender, ordnungspolitischer Rahmen.
Digitaler Handel spielt wachsende Rolle
Was aber nicht heißt, dass sich alle Geschäfte von damals halten konnten. Zwei Haushaltswarengeschäfte, zwei Schreibwarengeschäfte mit Bürobedarf, zwei Spielwarengeschäfte, zwei Taschenläden, die Marktpassage mit Feinkost und Imbisstheken, aber auch Metzgereien und andere sind verschwunden.
Das lag nicht alleine an der innerstädtischen Konkurrenz, sondern am veränderten Kaufverhalten der Kunden und dem wachsenden digitalen Handel. Etliche schwächere Läden, die die Modernisierung verpasst haben, mussten schließen. Nachgefolgt sind zum Beispiel Billigläden oder Nagelstudios. Oder es folgten Leerstände.
Hier bieten sich Chancen
Leerstände findet Holl gar nicht so schlimm, weil sich dort neue Möglichkeiten auftun. Mit einer halben Milliarde Umsatz habe sich der Handel in der Innenstadt als sehr leistungsfähig gezeigt. „Im Bundes- und Landesvergleich ist Singen gut aufgestellt“, sagt der Gutachter. „Bleiben Sie bei dem Standortkonzept mit leichten Nachbesserungen.“ Die Stadt habe erheblich investiert, um an Attraktivität zu gewinnen, lobt er. Das lockt kaufkräftige Kunden aus der Nachbarschaft, insbesondere auch aus der Schweiz an. Der Trend habe sich verfestigt und werde sich nach der Eröffnung des Cano im Herbst 2020 und durch das weitere Bevölkerungswachstum noch einmal verstärken, so die GMA-Gutachter.
Handlungsbedarf besteht in der Gastronomie und bei der Nahversorgung. Was den Lebensmittelhandel betrifft, stehen Stockach und Gottmadingen deutlich besser da. Auch wenn sich die Lage nach der Eröffnung des Cano-Einkaufszentrums verbessern werde, sei die Ansiedlung wohnortnaher Supermärkte nötig.
So benötigt die Nordstadt ein Nahversorgungskonzept. Allein, um den Verkehr zu reduzieren. Durch das Cano werde der Handelsplatz gewinnen; die Wettbewerbslandschaft werde sich verändern.
Einstimmig billigten die Stadträte den Entwurf zum Einzelhandelskonzept 2025. Franz Hirschle (CDU) fragte jedoch, warum die Fortschreibung 16 Jahre gebraucht habe. Regina Brütsch (SPD) fordert nach der Eröffnung des Cano eine schneller Überprüfung der Steuerungsmechanismen. Karin Leyhe-Schröpfer (Grüne) bezeichnete das GMA-Gutachten spitz als „Hohes Lied auf das Cano“.
Und auch Regina Henke (Grüne) sieht die Rolle des Cano im Gutachten zu wenig kritisch dargestellt. Dirk Oehle (Neue Linie) findet das „Konzept im großen und ganzen gut“, auch wenn die drei Handelszonen im Singener Süden nur „halb zähneknirschend akzeptiert“ werden. Zum Entwurf können Verbände und Bürger jetzt schriftlich Stellung beziehen.
Überlegungen und Fakten zur Einzelhandels- und Gewerbeentwicklung
Die Gesellschaft für Markt und Absatzforschung (GMA) begleitet die Stadt Singen bereits seit den 1980-er Jahren. Sie hat den Wandel im Einzelhandel dokumentiert. Auch die Gewerbeentwicklung wurde begutachtet. Hier einige Zahlen:
- Als Einzelhandelsplatz profitiert Singen von der zentralen Lage im Hegau, der guten Verkehrsanbindung und der Nähe zur Schweiz mit erheblichen Umsatzzuflüssen.
- Die Verkaufsfläche der 341 Einzelhandelsbetriebe betrug 2018 insgesamt 198 080 Quadratmeter. 239 Betriebe (70 Prozent) handeln nicht mit Lebensmitteln. Zwölf Prozent, also 46 Betriebe, waren zum Zeitpunkt der Erhebung Leerstände.
- Als zweitgrößter Arbeitsort im Landkreis Konstanz hat Singen 26.800 Beschäftigte, davon 8200 Einpendler.
- Die Zahl der Einwohner ist auf rund 47.800 gestiegen. 23 Prozent der Bewohner sind Ausländer. Bis 2025 sollen 680 neue Wohnungen in Singen entstehen, was der Stadt etwa 1500 Neubürger bescheren wird.
- Die Kaufkraft in Singen ist traditionell geringer als in den umliegenden Gemeinden. Die Kaufkraftkennziffer wird mit 95,3 Prozent gegenüber dem Bundesdurchschnitt angegeben. Dagegen ist das Kaufkraftniveau in der Schweiz doppelt so hoch wie in Deutschland.
- Die Zentralität, also die Anziehungskraft des Singener Handels, liegt bei 199. Das zeigen die erwirtschafteten Umsätze in Höhe von 503,4 Millionen Euro. Die Kaufkraft der Wohnbevölkerung macht mit 253,3 Millionen Euro nur die Hälfte aus. Das bedeutet, dass fast die gleiche Summe von außen dazu kommt.
- Defizite attestiert die GMA der Stadt in der Nahversorgung sowie in der Inszenierung einzelner Geschäfte sowie im gastronomischen Angebot.
- Prekär stellt sich die Situation im Gewerbegebiet dar. Dort hat die GMA für die kommenden zehn Jahre einen Flächenbedarf von rund 38 Hektar errechnet. Allerdings hat die Stadt keine Flächen mehr. Angesichts schwacher Zinsen am Finanzmarkt sind Privatbesitzer nicht bereit, ihre Grundstücke zu verkaufen.
- Gedankenspiele reichen von Erbpacht für Gewerbeflächen (Regina Brütsch, SPD) über ein Umzugsmanagement von Firmen (Dirk Oehle, Neue Linie) bis zu Enteignung, um an private Flächen zu kommen (Eberhard Röhm, Grüne).