Paul ist handwerklich begabt. Der 57-Jährige hat die meiste Zeit seines Berufslebens als Gipser auf Baustellen verbracht. "Ein Knochenjob", sagt er heute. "Aber es hat Spaß gemacht." In den Neunzigern gründete der Mann aus Mühlhausen-Ehingen sogar seine eigene kleine Baufirma. Dass ausgerechnet er, der so viel an Häusern und Wohnungen gearbeitet hat, Probleme hat, ein Dach überm Kopf zu finden: eine traurige Ironie des Schicksals.

Paul ist mittelgroß und trägt einen Vollbart. Auch im Inneren der Obdachlosenunterkunft lässt er seine Wollmütze lieber auf. Ein Jahr schon lebt er in der Bahnhofstraße 12 in Singen. Der 57-Jährige ist einer von derzeit acht Bewohnern, die in dem Betongebäude nahe der Cano-Baustelle in zehn Quadratmeter großen Einzelzimmern wohnen. "Ich habe, was ich brauche: ein Bett, Kühlschrank und eine funktionierende Heizung." Telefon oder Internet gebe es nicht, Küche und Bad teilt sich Paul mit den anderen Bewohnern. "Man grüßt sich, ansonsten macht jeder sein eigenes Ding."

Keine klassischen Landstreicher

Seit Oktober 2016 sind in dem vierstöckigen Neubau Obdachlose untergebracht. "Man darf sich diese Menschen aber nicht als gestrandete Landstreicher vorstellen", sagt Bruno Frese vom Kommunalen Sozialen Dienst der Stadt. Für Notfälle sei zwar ein Kälteschutzraum im Gebäude eingerichtet, es komme aber höchstens drei bis vier Mal im Jahr vor, dass die Polizei Bedürftige, die ansonsten auf der Straße übernachten müssten, hier unterbringt.

Sie sind keine Durchreisenden – aber wie muss man sich die Menschen dann vorstellen, die in der Bahnhofstraße 12 Zuflucht finden? "Es handelt sich um alleinstehende Männer. Im Moment sind die Bewohner zwischen 19 und 78 Jahre alt", berichtet Thomas Pöppel von der Abteilung Sicherheit und Ordnung. "Sie haben in Singen gewohnt und sind unfreiwillig obdachlos geworden. Sie haben kein Geld. Keine Freunde oder Verwandten, die sie aufnehmen könnten."

Sie setzen sich für Obdachlose in Singen ein: Die Sozialarbeiter Andreas Friedmann und Bruno Frese zusammen mit Hausmeister Alexander ...
Sie setzen sich für Obdachlose in Singen ein: Die Sozialarbeiter Andreas Friedmann und Bruno Frese zusammen mit Hausmeister Alexander Franck (von links) vor der neuesten Obdachlosenunterkunft in der Bahnhofstraße 12. | Bild: Tesche, Sabine

Um zu verhindern, dass Singener auf der Straße landen, ist die Stadt in stetigem Austausch mit Jobcenter und Amtsgericht. "Im vergangenen Jahr wurden im Stadtgebiet 40 Zwangsräumungen angeordnet, von denen 60 Personen betroffen waren", konstatiert der Stadtmitarbeiter. Zusammen mit ihrem Kollegen Andreas Friedmann unterstützen Pöppel und Frese die Betroffenen auf der Suche nach Wohnungen. Nur wenn das misslingt, gebe es die Möglichkeit, in eine der drei Obdachlosenunterkünfte der Stadt einzuziehen. "2018 war das aber nur in vier Fällen nötig", sagt Thomas Pöppel. Aus seiner Sicht eine echte Erfolgsquote.

Im Industriegebiet untergebracht: Auch in der Friedrich-Hecker-Straße 49/50 steht eine Notunterkunft. Wer von der Stadt untergebracht ...
Im Industriegebiet untergebracht: Auch in der Friedrich-Hecker-Straße 49/50 steht eine Notunterkunft. Wer von der Stadt untergebracht wird, muss alle 14 Tage nachweisen, dass er sich um Wohnraum bemüht. | Bild: Tesche, Sabine

Einmal Paradies und zurück

Paul ist froh, in der Unterkunft wohnen zu dürfen. Wie es dazu kam? Er sei in Mühlhausen auf die Hauptschule gegangen, berichtet der 57-Jährige. Danach habe er eine Lehre angetreten und schließlich einen Job als Staplerfahrer bei der Alu gefunden. "Zwei Jahre habe ich das gemacht – ich habe mich in der Firma aber eingeschlossen gefühlt", erinnert er sich. Attraktiver erschien das Angebot eines Kumpels, auf dem Bau zu arbeiten. Sogar noch besser: die Möglichkeit, auf Mallorca Wände zu verputzen. "Anfangs war es paradiesisch", blickt der 57-Jährige zurück. Die Auftragslage sei so gut gewesen, dass er sich entschloss, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Dann kam der Euro und das Ende des Baubooms in Spanien. "Die Häuser waren gebaut. Wenn es Aufträge gab, gingen die an Großfirmen."

Paul war frustriert. Er trank mehr, als gut für ihn war. Schließlich kehrte er in den Hegau zurück. Seine letzte Arbeitsstelle: ein Bundesfreiwilligendienst. Danach realisierte Paul, dass er seinen Alkoholkonsum in den Griff bekommen muss, wenn es ihm mit einer längerfristigen Anstellung ernst ist. Er startete eine mehrmonatige Therapie, die er erfolgreich abschloss. Danach waren seine Ersparnisse aufgebraucht. Paul wäre auf der Straße gelandet, hätte er nicht nachweisen können, dass er unfreiwillig obdachlos geworden war.

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Opfer häuslicher Gewalt trifft es besonders schwer

Anderen fällt genau das schwer, wie die Leiterin der Wohnungslosenhilfe im Landkreis, Susanne Graf, berichtet. "Im Moment versuchen wir zum Beispiel einer Frau in Singen zu helfen, die sich von ihrem Partner getrennt hat." Das Problem: Die Namen beider Partner stünden im Mietvertrag, erklärt Susanne Graf. Juristisch betrachtet hat die Frau ein Obdach. Deshalb dürfe sie nicht in eine städtische Obdachlosenunterkunft ziehen, selbst wenn sie gerne würde. Aus Susanne Grafs Sicht kein Einzelfall: "Besonders schlimm ist so eine Situation für Opfer von häuslicher Gewalt", betont sie.

In der Bahnhofstraße 3 haben Familien und alleinstehende Frauen Zuflucht gefunden. Eine neue Unterkunft speziell für Frauen und ...
In der Bahnhofstraße 3 haben Familien und alleinstehende Frauen Zuflucht gefunden. Eine neue Unterkunft speziell für Frauen und Alleinerziehende wird in der Freiheitstraße entstehen. Dort waren vorher Flüchtlinge untergebracht. | Bild: Tesche, Sabine

Der Wohnungslosenhilfe sind 32 Männer und zwölf Frauen bekannt, die in Singen obdachlos sind, aber aus rechtlichen Ursachen keine Unterkunft finden. "In den meisten Fällen haben sie bei Bekannten, Freunden oder Verwandten eine Schlafgelegenheit gefunden. Zwei Männer leben tatsächlich auf der Straße."

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Wie geht es mit Paul weiter?

Dieses Schicksal ist Paul erspart geblieben. Wie sieht heute sein Tagesablauf aus? Morgens gehe es zum Jobcenter, danach zur Tafel und in die Stadtbibliothek. "Dort habe ich Internetzugang", erklärt er. Bisher war die Suche nach Wohnraum und Arbeit nicht von Erfolg gekrönt. Um zu veranschaulichen, warum, zieht er ein DIN-A4-Blatt aus einem Ordner, den er bei sich trägt: ein Angebot für ein Zimmer in Hilzingen. Aufgrund der Größe bekäme er vom Jobcenter aber nicht die komplette Miete gezahlt, sagt er. Obwohl er keine Schulden hat, könne er sich den monatlich fehlenden Betrag nicht leisten.

Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Unterstützt von Bruno Frese hat sich der 57-Jährige für einen Seminar angemeldet, bei dem er seinen Staplerführerschein auffrischen kann. Pauls Plan: "Über eine Zeitarbeitsfirma Anstellung in Radolfzell finden" – und endlich wieder eine eigene Wohnung anmieten.

Der Kampf gegen die Obdachlosigkeit

  • Die Betroffenen: Derzeit sind 38 Obdachlose in drei Singener Notunterkünften untergebacht. Viele von ihnen leben schon länger als ein Jahr am jeweiligen Standort. Auf Beschluss des Finanzauschusses wird bald speziell für Frauen und Alleinerziehende ein Gebäude in der Freiheitstraße angemietet. An der Unterkunft im Moosgrund finden Sanierungen statt, die Ende des Jahres abgeschlossen sein sollen. Wer in einer Notunterkunft wohnt, muss alle zwei Wochen nachweisen, dass er sich um Wohnraum bemüht. Die Stadtmitarbeiter unterstützen Betroffene bei der Wohnungssuche und führen Gespräche mit möglichen Vermietern. Sie stellen Kontakte zu Institutionen her, die Angebote zum Beispiel im Falle von Arbeitslosigkeit, Schulden oder Sucht anbieten.
  • Weitere Hilfe: Der AGJ-Fachverband für Prävention und Rehabilitation bietet im Landkreis Hilfen für Obdachlose an. In Singen sind an Vormittagen zwei Beratungsstellen an allen Werktagen geöffnet. Wohnungslosenhilfe und Stadt sind stets auf der Suche nach potenziellen Vermietern, die Benachteiligten Wohnraum zur Verfügung stellen. Sie garantieren, dass der Kontakt zu den Obdachlosen nach dem Umzug aufrecht erhalten wird. Auch zu Vermietern wird, falls erwünscht, längerfristig Kontakt gehalten. Zudem besteht die Möglichkeit, Personen auf Probe einziehen zu lassen. Wer Obdachlosen wie Paul eine Wohnung oder ein Zimmer vermieten möchte, kann sich an die Wohnungslosenhilfe (wlh-konstanz@agj-freiburg.de) oder an Thomas Pöppel von der Stadt Singen, (07731) 85-620, wenden.