Herr Bushuven, es ist noch nicht lange her, da gab es jede Menge Horrormeldungen über Infektionen durch Keime in Krankenhäusern. Was hat sich seither getan?

Seit 2012 hat sich tatsächlich einiges geändert. Die Aufklärung über Infektionsfälle in Krankenhäusern hat vor mehreren Jahren zu einer Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit geführt und ist von ganz praktischer Natur. Dazu zählt die Stärkung der Ausbildung von Hygienefachpersonal und die intensive Schulung von Basismaßnahmen...

...also zum Beispiel das Händewaschen?

Ja, aber es geht auch darum, in welchen Bereichen die Desinfektion der Hände sinnvoll ist und dass es eine entsprechende Anzahl mit klar gekennzeichneten Desinfektion-Vorrichtungen gibt.

Stefan Bushuven ist der leitende Oberarzt in der Krankenhaushygiene und Intensivmediziner am Hegau-Bodense-Klinikum Singen. ...
Stefan Bushuven ist der leitende Oberarzt in der Krankenhaushygiene und Intensivmediziner am Hegau-Bodense-Klinikum Singen. Kommissarisch führt er auch das Institut für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. | Bild: Hegau-Bodensee-Klinikum

Sauberkeit sollte aber doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit im ärztlichen Bereich sein.

Die Antiseptik ist eine alte Disziplin, aber es geht auch um Zuständigkeiten und die Qualitätskontrollen. Und die Hygiene betrifft nicht nur den engen ärztlichen oder pflegerischen Bereich, sondern auch Bereiche vieler anderer Berufsgruppen und die Patienten selbst. In unserem Verbund ist das inzwischen in allen Einrichtungen klar geregelt und gehört zur alltäglichen Praxis. Darüber hinaus ist weiterhin die Entwicklung der „Hygienepolizei“ mit dem Ziel von Hygiene-Coaches wichtig. Dabei geht es um ein tieferes Verständnis von Mikroorganismen und unser Zusammenleben mit ihnen. Wir müssen zu einem rationalen Einsatz beispielsweise von Antibiotika kommen, denn diese töten unter Umständen nützliche Bakterien.

Was ist falsch an der Einstellung, dass nur eine tote Bakterie eine gute ist?

Darin zeigt sich eine in der Bevölkerung weit verbreitete Mikroben-Phobie. Natürlich gibt es krankmachende Mikroorganismen, aber auch sie gehören zum Leben und zur Geschichte unserer Gesundheit. Unser Immunsystem ist lernfähig und speichert den erfolgreichen Kampf gegen Eindringlinge ab. Wenn beispielsweise Kinder in einem sterilen Umfeld aufwachsen, fehlt ihrem Immunsystem ein frühzeitiger Sparringspartner. Das rächt sich dann unter Umständen in Form von Allergien gegenüber Stäuben oder Pollen. Auch Autoimmunerkrankungen lassen sich darauf zurückführen.

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Sie wollen jetzt aber nicht den Gegnern von Impfungen gegen die Masern das Wort reden?

Bestimmt nicht. Es gibt Mikroorganismen, wie etwa viele Viren, die überaus schädlich sind und Infektionen oder sogar Krebs hervorrufen, wogegen wir mittlerweile impfen können. Zum Beispiel bei HPV, einem Virus, welches Gebärmutterhalskrebs auslöst. Das generelle Problem, das sich an dieser Diskussion zeigt, ist das Schwarzweiß-Denken – nämlich dass alle Mikroorganismen, egal ob Bakterien oder Viren, „böse“ sind. Die Mikrobiom-Forschung ist diesbezüglich in vielen Bereichen noch ganz am Anfang, aber es lässt sich schon jetzt sagen, dass der Mittelweg im Umgang mit Mikroorganismen der richtige ist. Überall Antibiotika einzusetzen ist genauso falsch wie sie strikt vorzuenthalten. Und dafür müssen wir die Mikroben besser verstehen. Zu den faszinierenden Erkenntnissen der Forschung zählt zum Beispiel, dass verschiedene Bakterien miteinander kommunizieren können.

Ist also etwas dran an der Weisheit, dass genau dort viel Gesundheit herrscht, wo viele Mikroorganismen zuhause sind – also etwa auf einem klassischen Bauernhof?

Na, es kann auch mal was daneben gehen. Aber die normale Flora einer natürlichen Umgebung ist sicherlich förderlich – wenn die Kühe nicht voller Antibiotika sind. Und Hygiene und Impfungen sind sicherlich ein Mittel für den Erhalt von Gesundheit, was aber prinzipiell nichts daran ändert, dass wir einen Teil der Mikroorganismen nicht als Gegner oder einige sogar als Partner sehen sollten.

Corona als Partner? Wirklich?

Das Corona-Virus ist kaum ein Partner. Aber das, was da gerade passiert, ist ein natürlicher, wenn auch von uns Menschen höchst ungewünschter Prozess. Epidemien gelten als Motoren der Evolution. Das ist jedoch für eine durchorganisierte Gesellschaft mit dem Wunsch maximaler Kontrolle nicht einfach zu akzeptieren. Eine Naturgewalt zu kontrollieren ist nicht möglich, aber man kann sie verstehen lernen und dann Wege finden, ihre Auswirkungen zu mildern und dadurch Menschen zu retten. Hierfür ist ein vernünftiger und nicht überstürzter Umgang nötig. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Und das ist teilweise schwierig und wechselhaft, weil wir das Virus noch nicht komplett verstehen. Und so kommt es auch zu übertriebenen Maßnahmen...

Ist der Mundschutz übertrieben?

Die Diskussion darüber hat schon fast etwas Religiöses und unterliegt durch Forschung und Beobachtungen einer für viele gewiss irritierenden Wandelbarkeit. Vor vier Wochen noch „nein“, dann „vielleicht“, nun die Maskenpflicht. Für infizierte Personen ist das Tragen eines Mundschutzes sicherlich sinnvoll und auch sonst schadet so eine Maske natürlich niemandem. Zumindest körperlich. Prinzipiell aber gehören Erkrankte nicht aus falscher Pflichtauffassung an den Arbeitsplatz, sondern ins Bett, in Quarantäne und bei schwerem Infektionsverlauf ins Krankenhaus. Das ist bei Corona wie bei jeder anderen Infektion. Und natürlich gehört eine Maske zum Arbeitsschutz von Ärzten und Pflegern.

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Am Beispiel der Diskussion um den Mundschutz zeigt sich, dass sich durch Corona das Verhalten insgesamt ändert. Werden wir uns künftig noch die Hand geben oder uns umarmen?

Wichtig ist, dass wir aktuell eher physische – also zwei Meter Abstand – als soziale Distanz – also soziale Isolation – wahren. Auch dieser Mittelweg ist schwierig. Das Unterlassen des Handgebens widerspricht unserer Kultur, ja ist eine Unhöflichkeit. Man wird sehen, wie sich das in den nächsten ein, zwei Jahren entwickelt. Ich denke, dass zum Beispiel ältere Menschen es auch weiterhin als unhöflich empfinden, wenn man dauerhaft auf das Handgeben verzichtet. Aber wer weiß, vielleicht wird das durch den Ellenbogen-Gruß ersetzt. Das mit dem Küssen zur Begrüßung oder Verabschiedung kann man aber auch jetzt schon als seltsam empfinden.

Wo verläuft die Grenze zwischen sinnvoller Hygiene und sozialen Kontaktbedürfnis?

In dem Moment, wo sich aus übertriebener Hygiene psychische Erkrankungen durch Zwangshandlungen entwickeln, wird‘s gefährlich. Ich persönlich bekomme zu viel, wenn ich Eltern mit Kinderwagen sehe, an denen sich Desinfektionsspender befinden. Das zeugt von einer verängstigten und kontrollierenden Grundhaltung, die Mikroorganismen prinzipiell als Feinde sieht und Kindern unter Umständen wichtige Bakterien als Trainingspartner vorenthält. Aber um die gesunden Mittelwege zwischen zu viel und zu wenig Hygiene zu finden, benötigt es Schulungen auch für den Alltag, wann und warum welche Maßnahme der Hygiene sinnvoll ist und wann nicht.