Wer sich mit Gerd Springe unterhält, kann Dinge zu hören bekommen, die aus heutiger Sicht kaum zu glauben sind. Da erzählt der 86-Jährige, der seit 20 Jahren Vorstandsvorsitzender des Standortmarketingvereins Singen aktiv ist, etwa davon, wie er als Junge in der Nachkriegszeit am Bodensee mit seiner Mutter Werbebriefe für einen Lotterieeinnehmer geschrieben habe – gegen die Bezahlung von einem Pfennig pro Stück. Damit haben die beiden ihren Lebensunterhalt bestritten.
Und als der Lotterieeinnehmer auf die Idee kam, kurz nach dem ersten noch einen zweiten Werbebrief zu verschicken, hätten sie die Briefe mit Hilfe von Kohlepapier auf zwei Blätter gleichzeitig übertragen. Dafür habe es dann 0,1 Pfennig pro Stück mehr gegeben. Der Junge aus Hamburg hat sehr früh gelernt, den Zehntelpfennig zu ehren.
Dass es ihn überhaupt aus Norddeutschland an den Bodensee verschlagen hat, liegt, wie so vieles, am Zweiten Weltkrieg. Sein Vater sei früh gestorben, sein Großvater habe als Jurist Sozialdemokraten vertreten, in der Nazi-Zeit Berufsverbot bekommen und sich nach Wasserburg am Bodensee zurückgezogen, erzählt Springe. Im Sommer 1943 habe er, damals siebenjährig, mit seiner alleinerziehenden Mutter den Großvater besucht. In dieser Zeit haben alliierte Flugzeuge Hamburg bombardiert, große Teile der Stadt brannten nieder, auch das eigene Wohnhaus. Mutter und Sohn blieben beim Großvater. Sie, einst Schauspielerin am Hamburger Schauspielhaus, sei zunächst arbeitslos gewesen. Sie habe dann auf Anregung eines französischen Offiziers ein deutsch-französisches Schülerheim in Wasserburg gegründet, das bis heute besteht.
Die Herkunft hat ihn geprägt
Eine Berufslaufbahn, die in der Position eines klassischen Industriekapitäns enden würde, war für Springe also keineswegs vorgezeichnet. Grundstein war ein Studium samt Promotion. Und dass das in der noch jungen Bundesrepublik möglich wurde, dafür sei er sehr dankbar gewesen, sagt Springe: „Ich habe von der Gesellschaft stark profitiert. Dann habe ich mich ehrenamtlich engagiert, um der Gesellschaft etwas zurückzugeben.“ Auch im Studium habe er seine Herkunft gespürt. Im damals ganz neuen Fach Wirtschaftsingenieur in Darmstadt seien alle anderen jungen Männer Söhne von Unternehmern gewesen. Springe sattelte auf Physik an der Universität in München um, promovierte in Stuttgart in Metallkunde mit einer Arbeit zur Korrosion von Edelstahl unter Spannung.
Das Thema sollte für Springes Karriere bedeutsam werden. Dasselbe Phänomen sei nämlich in dieser Zeit, den 1960er-Jahren, in der Aluminiumindustrie ein großes Thema gewesen. Springe heuerte im Labor des Singener Aluminiumwerks an. Dort sei dann eine neue Legierung entwickelt worden, mit Magnesium und Silizium, die noch heute für ICE-Züge verwendet werde. Und mit leichten Veränderungen sei es auch diese Mischung der Metalle, aus der die meisten Motorhauben von Autos hergestellt werden, sagt Springe.
Eine Berufslaufbahn bis zum Industriekapitän
Beim Labor blieb es indes nicht. Der heute 86-Jährige kam unter anderem in die Betriebsleitung, in die Konzernzentrale in der Schweiz und schließlich ab 1992 als Vorsitzender der Geschäftsführung von Alusuisse Singen zurück an den Hohentwiel. Er sei auf Dietrich H. Boesken gefolgt, dessen Angestellter er einst gewesen sei, erinnert sich Springe. In den 34 Jahren bei Alusuisse habe er 17 Funktionen gehabt und war zwölf Jahre im Auslandseinsatz.
Mit dem Ruhestand als Deutschland-Chef von Alusuisse Lonza mit 65 Jahren ab 2000 war für ihn noch lange nicht Schluss, Ehrenämter beschäftigten ihn weiter. Zuerst sei es bei der Cluster-Initiative mit dem damaligen Landrat Frank Hämmerle weitergegangen. Dabei sei es um eine Vernetzung von Akteuren derselben Bereiche gegangen, aber auch von Unternehmen entlang einer Wertschöpfungskette. Manches davon gebe es heute noch, so Springe.
Und nach einem ähnlichen Modell funktioniert auch der Verein Singen aktiv. Seine Bedingung, um bei der Gründung 2002 als Vorstandsvorsitzender dabei zu ein, sei eine professionelle Organisation und die Verzahnung mit der Stadt gewesen. So sei es zur jetzigen öffentlich-privaten Partnerschaft gekommen. Und: „Wir haben den Begriff Chancenstandort Singen geprägt“, sagt Springe. Bei der Mitgliederversammlung von Singen aktiv am Dienstag, 3. Mai, wird Gerd Springe das Vorstandsamt abgeben. Als Nachfolger vorgeschlagen ist Wilfried Trah, der einmal Werksdirektor bei Nestlé in Singen war, wie Singen aktiv-Geschäftsführerin Claudia Kessler-Franzen erklärt.