Sofie Fiebiger passiert es immer wieder, dass sie von Anrufern nach dem Herr Pfarrer gefragt wird. Doch in der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde in Singen gibt es aktuell keinen Herr Pfarrer, sondern eine Frau Pfarrerin – nämlich die 29-Jährige selbst. Und die bringt manchmal auch neuen feministischen Wind in die Kirche, wenn sie von „die Gott“ spricht. Für sie ist das Teil ihrer Person und Persönlichkeit, wie sie erklärt, aber auch ein Weg, um künftig weiterhin Menschen zu erreichen. Jeder soll sich wiederfinden können. Und das ist nötig: Während 2021 noch rund 51 Prozent der Deutschen ein Kirchenmitglied waren, sank die Zahl aktuell auf unter 50 Prozent. Experten sprechen von einer historischen Zäsur.
Immer wieder hat Sofie Fiebiger die Nachricht auf dem Schreibtisch, dass jemand aus ihrer Kirchengemeinde ausgetreten ist. Das sei schade, findet sie, denn damit gehe ein Mitglied einer Gemeinschaft verloren. Dass es Kirche und Glauben weiterhin braucht, steht für die 29-Jährige nicht zur Debatte: Jeder sei in seinem Alltag immer wieder mit Fragen konfrontiert, bei denen der Austausch helfen könne. Klassische Berührungspunkte mit der Kirche sind Taufe oder Hochzeit, doch auch in Krisen denken viele Menschen an eine übermächtige Kraft. „Eigentlich machen wir ein ziemlich tolles Angebot: Ich stehe für vertrauliche Gespräche zur Verfügung. Doch viele wollen nicht stören oder denken, dass sie Gemeindemitglied sein müssen“, sagt Fiebiger.
Hohe Zahl der Kirchenaustritte nicht gottgegeben hinnehmen
Auf eine übermächtige Kraft allein wollen sich Kirchenvertreter bei der aktuellen Krise nicht verlassen: „Wir werden sinkende Mitgliederzahlen und anhaltend hohe Austrittszahlen nicht als gottgegeben hinnehmen, sondern dort, wo es möglich ist, entschieden gegensteuern“, sagt Annette Kurschus als Vorsitzende des Rates der evangelischen Kirche Deutschlands. Ähnlich motiviert zeigt sich Sofie Fiebiger: „Ich finde es gut, wenn man aus diesem Jammer-Modus rauskommt. Die Veränderung kann auch eine Chance sein und es ist spannend, neue Formen von Kirche zu finden.“
Neue Formen seien während der Pandemie reichlich entstanden, Gottesdienste fanden beispielsweise online statt. „Ich beobachte einen allgemeinen Wandel und das macht mir große Hoffnung. Gerade in den vergangenen zwei Jahren sind viele Kollegen so kreativ geworden.“

Auch Sofie Fiebiger entwickelt eigene Formate und möchte dabei die Zugangsvoraussetzungen so gering wie möglich halten, wie sie erklärt. Ein Beispiel sei das Projekt „Omas & Kids“, bei dem alle zwei Wochen freitags ältere Gemeindemitglieder etwas Zeit mit Kindern und ihren Lieblingserwachsenen verbringen. „Wir wollten etwas für Kinder machen, nachdem sie in den vergangenen Monaten so zurückstecken mussten“, erklärt Fiebiger.
Ein anderes Beispiel ist ein bisher ungenutzter Raum, der künftig als gemeinsames Büro genutzt werden soll, Coworking genannt. „Kirche ist nicht nur Institution, sondern auch Beziehungen und Gemeinschaft“, betont die junge Pfarrerin.
Feminismus in der Kirche? Gott ist mehr als ein Geschlecht, findet die Pfarrerin
Auf die Frage, ob besonders ältere Menschen ihre Kirche besuchen, antwortet die junge Pfarrerin anfangs nicht direkt. „Das kommt darauf an, wie man Kirche sieht und ob man nur den klassischen Gottesdienst meint.“ Dann sitzen erfahrungsgemäß mehr Menschen mit grauen Haaren in der Kirche, doch auch das sei keine einheitliche Gruppe. „Auch die haben verschiedene Meinungen und lassen sich auf Neues ein.“
Ein Beispiel dafür sei Feminismus, denn auch dafür sei Raum in der Kirche. „Gott ist nicht nur ein alter Mann auf einer Wolke. Er ist mehr als ein Geschlecht“, sagt Sofie Fiebiger.
Evangelische Kirche kann aus katholischen Protesten lernen
Die evangelische Kirche tue sich mit Frauen und deren Gleichberechtigung womöglich etwas leichter als die katholische, sagt Sofie Fiebiger. Mit Bewegungen wie Maria 2.0 oder „#OutinChurch“, die das starre Konstrukt aufbrechen wollen, erkläre sie sich solidarisch. Bei Maria 2.0 setzen sich Frauen für eine moderne, gleichberechtigte katholische Kirche ein – und sammelten dafür schon zum Start 2019 über 40.000 Unterschriften.
Die Bewegung „#OutinChurch“ zeigte im Januar 2022 auf, dass auch in der katholischen Kirche homosexuelle Menschen arbeiten – selbst wenn das aktuell verboten ist. Sie setzen sich für eine Kirche ohne Angst ein. Solche Bewegungen seien auch eine Gelegenheit, in der evangelischen Kirche zu hinterfragen, wo man aktuell stehe und noch Potenzial habe, sagt Fiebiger.
Läuft es in der evangelischen Kirche besser?
Die evangelische Kirche feiere aktuell, dass Pfarrerinnen seit 50 Jahren gleichberechtigt sind mit Pfarrern. Außerdem wurde vor wenigen Wochen erstmals eine Frau zur Landesbischöfin. Dennoch sei noch Einiges zu tun, findet Sofie Fiebiger: „Ich habe keine Lust mehr, zu Pfarrer-Treffen eingeladen zu werden und mitgemeint zu sein. Ich bin eine Pfarrerin.“ Doch solche Veränderungsprozesse brauchen Zeit und den passenden Kontext: Während sie bei einer Beerdigung den Traditionen verbunden sei, spreche sie im Gottesdienst schon mal von der heiligen Geisteskraft.

Von Freikirchen könne man sich Einiges abschauen
Sofie Fiebiger setzt in ihrem Alltag auf verschiedene Wege, Menschen zu erreichen. Manche Aktionen sind klassisch wie die Geburtstagskarte für Jubilare. Wer älter als 70 ist, soll alle fünf Jahre Post und ein Gesprächsangebot bekommen. Doch auch zum 30. und 50. Geburtstag will Sofie Fiebiger beglückwünschen. Außerdem stehen pro Woche fünf Namen auf ihrer Anrufliste. Einige davon kenne sie schon, andere noch nicht.
Dass Freikirchen aktuell eher einen Zulauf verzeichnen und die ICF in Singen beispielsweise nach größeren Räumen sucht (der SÜDKURIER berichtete), findet die junge Pfarrerin faszinierend. „Wir können uns da viel abschauen, auch was Kommunikation angeht.“ Damit künftig noch mehr Leute wissen, dass sie die Frau Pfarrerin am Telefon haben und man gerne mit ihr reden darf.