Man braucht schon viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie die Menschen in vergangenen Jahrhunderten gelebt haben. Am leichtesten fällt das, wenn ein Haus oder ein Schloss, möglichst mit Einrichtung, noch vollständig erhalten ist. Aber was ist mit Ruinen, die nur aus Mauerresten bestehen. Doch so spannend eine verfallene oder zerstörte Anlage für geübte Historiker ist, so rätselhaft kann sie für Laien bleiben. Das wollen die Staatlichen Schlösser und Gärten mithilfe einer neuen digitalen App ändern.
Das Land Baden-Württemberg hat dafür im Rahmen der ressortübergreifenden Digitalisierungsstrategie sehr viel Geld in die Hand genommen. Insgesamt eine Milliarde Euro, von der die Hälfte in die Verbesserung der digitalen Infrastruktur fließt. 265 Millionen werden für 70 konkrete Projekte ausgegeben, von denen eines der ersten die dreidimensionale Aufarbeitung der Singener Festungsruine ist. In der Monumente-3D-App können sich die Nutzer sehr plastisch anschauen, wie die Burg um 1800 ausgesehen hat. Sie erhalten anhand jüngster wissenschaftlicher Forschungen Informationen zum Leben der Menschen auf dem Singener Hausberg. Die Darstellungen beruhen auf ausgewerteten historischen Dokumenten. Die virtuelle Rekonstruktion der Festungsanlage ist das Ergebnis intensiver Forschung. So will das Land mit modernen Medien das kulturelle Erbe auch für jüngere Menschen zugänglich machen.
Als Weltneuheit, als Leuchtturmprojekt des Landes Baden-Württemberg bezeichnet der Geschäftsführer der Staatlichen Schlösser und Gärten (SSG), Michael Hörrmann, die neue App zum Hohentwiel, die sich jeder kostenlos auf sein mobiles Endgerät herunterladen kann. Es sei das Pilotprojekt der virtuellen Rekonstruktion von Kulturliegenschaften, erklärte er bei einem ersten Rundgang mit der Finanzstaatssekretärin Gisela Splett und Vertretern der Presse am Dienstagnachmittag.
Projektleiter ist Frithjof Schwartz. Er verteilte Tablets an die kleine Gruppe und steuerte einige der insgesamt rund 40 verschiedenen Wissensstationen an. Sobald man sich auf dem Gerät einwählt, wird der aktuelle Standort per GPS ermittelt. Und dann kann die Führung beginnen. Eine rote Perlenkette führt den Besucher durch die Festungsanlage. Man kann wählen zwischen einer Ego-Perspektive, in der man sich mitten in den digital rekonstruierten Mauern wiederfindet; oder man entscheidet sich für die Vogelperspektive und schaut damit von oben in die Anlage. Die Besucher können die Informationen zu den einzelnen Stationen lesen oder sich eine Hörversion vorspielen lassen. Wer sich für die geführte Tour entscheidet, durchläuft 26 Stationen und bekommt weitere Informationen über 21 historische Persönlichkeiten. Dazu kommen zahlreiche Fakten zur Pflanzen- und Tierwelt auf dem Hohentwiel.

„Wer sich alles anschauen und anhören will, braucht vier bis sechs Stunden“, erklärt Michael Hörrmann. Die Besucher haben auch die Wahl zwischen einer klassischen Führung und Abenteuergeschichten. „Das ist erst die erste Stufe der App“, sagt Hörrmann. Im Hintergrund laufe bereits die Weiterentwicklung. Das kann eine Schatzsuche werden oder Spezialthemen wie die Bedeutung des Weines oder der Schafe auf der Festung.
In der aktuellen Fassung werden drei Erlebnis-Ebenen angeboten: aus der Erwachsenenperspektive in Form eines Video-Spiels, als interaktives Raumerlebnis mit Informationen über die Bauweise und nicht zuletzt als eine der größten Festungsruinen Deutschlands auf neun Hektar Fläche .
Mit der Erforschung des Hohentwiels habe man eine neue Stufe erreicht, erklärt der Projektleiter Frithjof Schwartz. Das Wissen über das Leben auf dem Schlot des erloschenen Vulkans sei noch nie so gut gewesen wie heute. Und Hörrmann ergänzt: „Unser Ziel ist, alle 62 Monumente der SSG nach dem Vorbild der Hohentwiel-App zu präsentieren.“