Die Krise als Chance begreifen: Wie oft hat man diesen Satz in den vergangenen Wochen und Monaten gehört? Er klingt wie das Pfeifen im Wald, mit dem man sich die Angst im Dunkeln vertreiben möchte. Reiner Wöhrstein hat diesen Satz nicht gesagt; aber er passt zu ihm.
Wenn der Fotofachhändler auf seine Firmengeschichte zurückblickt, dann kommen darin nicht nur sechs von ihm eröffnete Läden vor, sondern auch drei große Wirtschafts- und Branchenkrisen vor, die er mit Mut und Innovationsgeist überstanden hat. Jetzt plant er in der für ihn vierten Krise seinen siebten Laden, und zwar im Cano.
Er wollte in der August-Ruf-Straße bleiben
Reiner Wöhrstein war schon immer ein Vordenker des Singener Handels. Als es um die Frage ging, ob die Stadt ein Einkaufszentrum mit 16.000 Quadratmetern Verkaufsfläche verträgt, war er sofort ein glühender Verfechter des Projektes der Hamburger Investorengesellschaft ECE.
Er ist überzeugt davon, dass die Stadt und der Handel diesen Magneten zum Überleben brauchten. Doch dass er mit seinem eigenen Laden einmal dort einziehen würde, war bis zum März für ihn tabu. Er wollte in der oberen August-Ruf-Straße bleiben.
Dann kam Corona. Hatte sich der Singener Fachhändler in der bereits kränkelnden Fotobranche bis dahin noch wacker gehalten, so musste er nun zusehen, wie im sechswöchige Lockdown die Umsätze in den Keller rutschten und die Aufträge wegbrachen. Schon vor der Krise hatte er festgestellt, dass die Kundenfrequenz in seinem Geschäft in den vergangenen neun Jahre um 56 Prozent geschrumpft ist.
Fotobranche ist in akuter Not
Aus der Verbandsarbeit in der Fotowirtschaft weiß er, dass die Branche in akuter Not ist, weil die Menschen keine besonderen Apparate mehr benötigen: Smartphones liefern so gute Bilder, dass sie den meisten ausreichen. Nur ambitionierte Hobby-Fotografen und Profis geben noch Geld für teure Kameras aus.
„Von den 2000 Fotogeschäften in Deutschland werden in wenigen Jahren nur noch 70 bis 90 übrig sein“, sagt Reiner Wöhrstein. Singen hat diese Entwicklung bereits vorweggenommen. Von den ehemals zwölf Fotogeschäften wird zum Jahresbeginn 2021 vermutlich nur noch eines übrig sein: Foto Wöhrstein.
Reiner Wöhrstein hat sich entschlossen, noch einmal richtig durchzustarten. Mit 73 könnte er sich eigentlich zur Ruhe setzen. Aber das passt nicht zu ihm. „Ich fühle mich absolut fit“, sagt er und sprüht vor Energie.
Exklusive Ausstattung im Retro-Look
Wöhrstein erklärt, wie sein Überlebenskonzept aussieht: „Halbe Fläche, exklusive Ladenausstattung im Retro-Look in Holzoptik und edle Vitrinen für die vier wichtigsten Kamera-Marken“, zählt er auf. Im Untergeschoss des Cano will er Kunden mit Aufsehen erregenden Studioaufnahmen begeistern.
„Die Menschen bekommen hochkarätige Bilder von uns, mit denen sie sich auf allen sozialen Kanälen präsentieren können“, schwärmt er. „Iris-Fotografie, Passbilder, Bewerbungsfotos, Videobewerbungen. Wir wollen uns mit unseren Dienstleistungen in einem schicken, kleinen Studio abheben und auf kleiner Fläche in eine Edelnische gehen.“
Wenig Zeit für Einrichtung und Umzug
Wöhrsteins Aufbruchstimmung ist offenbar ansteckend. Sein junges, neunköpfiges Team ist hochmotiviert und bringt sich mit Ideen und Spezialkenntnissen ein. Erst am 9. Oktober wird die Fläche an den Mieter übergeben. Danach kann der Ladenbau beginnen. Nur etwas mehr als ein Monat Zeit bis zur Cano-Eröffnung bleibt dann noch für die Einrichtung und den Umzug.
Das ist sportlich, aber Wöhrstein liebt die Herausforderung. Eine neue hat er schon: Er muss die Energieausweise im Wohn- und Geschäftshaus seines jetzigen Standortes zusammentragen, damit seine alte Ladenfläche möglichst bald einen neuen Mieter findet. Denn eines will der Singener Einzelhändler vermeiden: „Dass die obere August-Ruf-Straße verwaist.“