Wenn sich Vertreter des Landesdenkmalamtes mit dem Kreisarchäologen Jürgen Hald, Vertretern des Hegaugeschichtsvereins und dem Museumsverein im Hegau-Museum verabreden, muss es sich um eine Besonderheit handeln. In diesem Fall geht es um eine Kostbarkeit, die anfangs gar nicht als solche erkannt wurde: die Bürgli-Glocke aus Gailingen.
Herbert Kästle formt mit seinen Händen einen kleinen Hohlraum. „Die Glocke ist nicht größer als so“, umschreibt er seinen Fund. Anfangs hatte er dem Ding nicht viel Bedeutung beigemessen. Aber liegen lassen wollte er es auch nicht. Weil der Klöppel fehlte, war für ihn nicht gleich klar, dass es sich um eine Glocke handelte. „Ich dachte, ich nehm‘s mal mit nach Hause“, erzählt er. Das war 1998. Der gebürtige Gailinger war damals nach langer beruflicher Abwesenheit gerade erst wieder in seine Heimatgemeinde zurückgekehrt, als auf dem Gelände des ehemaligen Bürgli-Schlosses ein Aussichtsturm für Wanderer gebaut wurde. Kästle war als Helfer dabei, Löcher für die Fundamente der Bänke zu graben, als ihm dieses Bronze-Teil in die Hände fiel. Dass das, was er da ausgebuddelt hatte, eine archäologische Sensation ist, erfuhr er erst jetzt.
Ein weiterer Zufall wollte es, dass Peter Schmidt-Thomé vom Freiburger Landesdenkmalamt in Gailingen zu Besuch war und mit Herbert Kästle ins Gespräch kam. Das Objekt weckte dessen wissenschaftliches Interesse. Der Denkmalschützer nahm das Fundstück mit und versprach dem Finder, es nach der Auswertung zurückzubringen. Doch darauf darf Kästle nun nicht mehr hoffen. „Ein Objekt von überregionaler Bedeutung, das zufällig gefunden wird, geht in den Besitz des Landes über“, erklärt Bertram Jenisch den Zuhörern im archäologischen Hegau-Museum in Singen. „Diese Glocke ist eine echte Rarität, die einzige in Baden-Württemberg, wenn nicht gar in Deutschland.“ Europaweit seien nur fünf solcher frühen Kirchenglocken bekannt.
Jenisch ist beim Landesdenkmalamt in Freiburg der Experte für die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Er hat sich ausführlich mit der Erforschung der Bürgli-Glocke beschäftigt und dabei nicht nur das Material im Labor untersuchen lassen, sondern Vergleiche angestellt, mittelalterliche Schriften und Zeichnungen ausgewertet und den als Glockenpapst bezeichneten Kurt Kramer zurate gezogen. Der entlockte der dünnwandigen Bronze-Glocke mit einem Metallstab ein hohes A. Wegen ihrer Form wird sie als Bienenkorb-Glocke bezeichnet. Sie hat einen Durchmesser von rund 13 Zentimetern und ist rund 15 Zentimeter hoch. Dazu kommt eine Krone, an der sie aufgehängt war. „Solche Glocken wurden meistens in Gruppen geläutet“, erklärt Bertram Jenisch. Bei der Bürgli-Glocke handelt es sich um eine der ältesten Kirchenglocken. Ihre Entstehungszeit wird auf um 1050 datiert.
Warum aber lag die Glocke im Erdreich vergraben? Und wo war ihr ursprünglicher Einsatzort? Bertram Jenisch hält die St. Nikolaus-Kapelle in Obergailingen für am wahrscheinlichsten. Er geht davon aus, dass man die Glocke vor kriegerischen Raubzügen retten wollte und deshalb in der ehemaligen Wehranlage des Bürgli-Schlosses vergraben hat.
„Solche Glocken waren im Mittelalter Vermittler zwischen Himmel und Erde“, erzählt der Wissenschaftler. Er hat die Schriften von Theophilus Presbyter studiert, der den Glockenguss präzise beschrieben hat. „Leider sind bisher alle Versuche gescheitert, Glocken nach seinen Rezepten nachzugießen.“ Offenbar hat Theophilus Presbyter in seinen Beschreibungen einige Details ausgelassen. Doch seine Schriften gelten als wichtige Dokumente für die Erforschung des mittelalterlichen Kunsthandwerks.
In Gailingen wird es trotzdem einen öffentlichen Nachguss der Bürgli-Glocke geben. Bastian Asmus vom Campus Galli ist spezialisiert auf experimentelle Archäologie. Er hat herausgefunden, was Theophilus Presbyter in seiner Beschreibung zum Guss einer Bienenkorb-Glocke ausgelassen hat. Er wird die Glocke gießen. Diese Kopie bleibt dann im Gailinger Rathaus. Das Original liegt jetzt im Tresor des Landesamtes für Denkmalpflege. Es soll ab Mitte Mai 2024 in einer Dauerausstellung über die Insel Reichenau im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz ausgestellt werden. „Wir müssen uns von dem Gedanken trennen, dass das Mittelalter finster war“, sagt Bertram Jenisch. Alle Rohstoffe hätten mühelos auf den großen Messen beschafft werden können. Schwieriger sei es gewesen, die entsprechenden Handwerker zu finden. Wenn Herbert Kästle sein Fundstück mal wieder betrachten möchte, muss er sich künftig nach Konstanz aufmachen.
Der Glockenguss
Ein von geschichtsinteressierten Bürgern mit Spannung erwarteter Termin ist der 8. September. Der Mittelalter-Experte vom Landesamt für Denkmalschutz in Freiburg, Bertram Jenisch, hat in seinem Vortrag im Singener Hegau-Museum bereits erklärt, wie die Bürgli-Glocke aus dem Jahr 1050 aufgebaut ist. Die Glocke gilt als Sensationsfund und absolute Rarität. Sie soll ab Mitte Mai 2024 im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz in einer Dauerausstellung über die Insel Reichenau gezeigt werden. Dort hat sich nach aller Wahrscheinlichkeit im Mittelalter eine kleine Glockengießerei befunden, aus der die Bürgli-Glocke stammen könnte. Weil die Rarität nicht an den Fundort Gailingen zurückgegeben werden kann, soll die Gemeinde einen Nachguss erhalten. Der soll am 8. September auf dem Gelände der Hochrheinhalle öffentlich vollzogen werden. Bastian Asmus vom Campus Galli wird den Prozess ausführen. (gtr)Das lesen Sie zusätzlich online
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