Bereits der Lockdown im vergangenen Frühjahr sowie die lange Zeit des Homeschoolings haben viele Eltern, deren besondere Kinder an der Haldenwang-Schule gehen, an ihre persönlichen und existenziellen Grenzen gebracht. „Im Gegensatz zu Familien mit nicht beeinträchtigten Kindern haben viele unserer Eltern nicht die Möglichkeit, sich Hilfe innerhalb der Familie oder Nachbarschaft zu suchen“, erklärt Melanie Geiges, die Elternbeiratsvorsitzende. Aufgrund der unterschiedlichen Behinderungen der Kinder sowie gesundheitlichen Beeinträchtigungen bedeute eine Betreuung über Wochen oder gar Monate zuhause für die Eltern eine enorme Belastung.
„Trotzdem waren viele Kinder bis zu den Sommerferien zuhause, weil die Sorge um eine Ansteckung im schulischen Rahmen zu groß war“, weiß Melanie Geiges. Auch vor dem erneuten Lockdown war der Schulbesuch nicht für alle Kinder möglich, da die Gefahr einer Ansteckung zu hoch war. Denn für viele Schüler ist das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes nicht möglich und auch der Abstand kann häufig nicht eingehalten werden, da die Fachkräfte die medizinische, pflegerische und Alltags-Hilfe mit Abstand nicht bewerkstelligen können. „Daher kann das Corona-Konzept des Kultusministeriums für die allgemeinbildenden Schulen und Berufsschulen nicht eins zu eins auf die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) übertragen werden“, darauf hätten die Elternbeiratsvorsitzenden der Haldenwang-Schule und der Regenbogenschule Konstanz bereits im November das Kultusministerium hingewiesen. Es gab bis heute keine Reaktion auf das Schreiben.
Aufgrund der Beeinträchtigungen der Schüler sei Fernunterricht nur in begrenztem Rahmen und nur bei wenigen Kindern möglich. Zudem sei die Diskussion um Digitalisierung nicht zielführend, weil bestimmte Bedürfnisse der Kinder wie Therapien mit Digitalisierung nicht überbrückt werden können. „Wir Eltern benötigen die Möglichkeit, unsere Kinder im häuslichen Umfeld betreuen zu lassen. Oftmals ist eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung notwendig, unabhängig vom Alter! Die fehlende pädagogische und therapeutische Begleitung innerhalb des schulischen Rahmens hat dazu geführt, dass die Kinder teilweise enorme Rückschritte gemacht haben. Bei manchen Kindern führt der Wegfall der Therapien über einen so großen Zeitraum zu einem so großen Entwicklungsrückschritt, der teilweise auf mehrere Jahre beziffert wird“, fasst sie die aktuelle Lage zusammen.
Ihr Fazit lautet: Kultusministerium und Landesregierung müssen sich dringend Gedanken machen, wie die Kinder und deren Familien, Rektorat sowie Lehr- und Fachkräfte an den SBBZ in Zukunft in solchen Zeiten ausreichend unterstützt werden können. Die Schüler befänden sich trotz aller Inklusionsgedanken und Anstrengungen noch immer in vielen Bereichen am Rand der Gesellschaft statt mittendrin.
Völlig überrascht war sie von der Mitteilung des Kultusministeriums, dass die SBBZ mit Schwerpunkt geistige und körperliche Entwicklung regulär öffnen. „Das ist natürlich für viele Eltern eine Erleichterung wegen der kräfteraubenden Organisation zuhause. Aber es gibt erneut keine Unterstützung, Ideen und Konzepte seitens des Kultusministeriums. Ohne die Möglichkeit von Schnelltests und Entzerrung der Klassen ist es trotz bestehendem eigenen, sehr guten Schutz- und Hygienekonzept der Schule nicht möglich, die Schüler sowie die Fachkräfte ausreichend zu schützen.“
Die Räumlichkeiten der Haldenwang-Schule reichen seit mehr als fünf Jahren nicht mehr aus. Die Schülerzahl ist stetig gestiegen. Die Klassenräume sind zu klein, um sich mit Rollstühlen und Hilfsmittel inmitten der Tische und Stühle und notwendigen Gegenstände mit Abstand bewegen zu können. Darum steht die Haldenwang-Schule vor einem jahrelangen Planungsmarathon und die Situation für die Schulgemeinschaft wird immer grenzwertiger. Der Elternbeirat betont deutlich, dass die Schüler dringend die Aufmerksamkeit der Politik brauchen. „Unsere besonderen Kinder bringen so viel Freude in das Leben unserer Familien und unseres Umfelds und sie zeigen jeden Tag aufs Neue, was wirklich wichtig ist im Leben. Sie haben es mehr als verdient, wahrgenommen zu werden.“
Die Schulleiterin: „Ein Sonderschullehrer ist 24 Stunden im Dienst“
- Rund um die Uhr im Einsatz: „Ein Sonderschullehrer ist 24 Stunden im Dienst“, das ist im Behinderten-Arbeitsbereich nicht nur unter Kollegen Einstellung und Überzeugung. Dies und sogar noch mehr bestätigt im Rückblick auf die Pandemie Schulleiterin Nadja Hennes von der Hewenschule in Engen: „An unserem kleinen Sonderpädagogischen Beratungs- und Förderzentrum war die Schulleitung praktisch 24 Stunden ununterbrochen an sieben Tagen in der Woche im Einsatz.“ Hatte sie die erste Schulschließung noch überrascht und zunächst etwas überfordert, „waren wir bei der zweiten schon besser vorbereitet“, erinnert sie sich. Die laufenden und oft nur in letzter Minute angekündigten Verordnungen oder durch die Presse informierten Veränderungen seien sehr aufwendig gewesen und hätten großes Engagement und Kreativität der Führungskräfte bedeutet.
- Das sind die Aufgaben: „Wir müssen in der Praxis fast alles selbst erledigen: digitales Vernetzen, Betreuung des Servers und der Computer, Organisation von Homeschooling, Notbetreuung, Hompepage warten, über Moodle kommunizieren. Dazu Arbeitspläne entwerfen, Arbeitsblättern ausdrucken, verteilen, oft sogar nach Hause bringen und diese dann noch abholen und übers Wochenende korrigieren und neue vorbereiten. Videobetreuung funktioniert bei uns kaum, wird zwar auch angeboten, aber das Equipment zuhause ist sehr dürftig“, beschreibt sie die Vielfalt der Aufgaben. „Aber es läuft bei uns schon mehr als zufriedenstellend und auf vielen Kanälen“, ist Monika Dethloff, die der Rektorin zur Seite steht, recht stolz. Derzeit sind vier Schüler in Notbetreuung täglich in der Schule, „obwohl eigentlich alle unserer derzeitig 50 Schüler Notbetreuung brauchten“, berichtet die Rektorin. „Die anderen werden für eine Woche mit Aufgaben versorgt, über Video, Telefon und E-Mail betreut und arbeiten auch, soweit sie es eben leisten können. Aber alle leiden“, bedauert sie.
- So geht es den Familien: „Gerade unsere Kinder mit weit gestreuten Behinderungen, brauchen den Kontakt, die Zuneigung und die Hilfen ihrer Lehrerinnen und Lehrer. Ohne diese sind sie oft hilflos. Die Eltern können das nicht auffangen, sie verlieren die Motivation, sind gefrustet.“ Wie es dann zuhause oft zugehen kann, will sie gar nicht vorstellen, macht ihr aber auch große Sorgen. „Wie wir das dann auffangen, wenn die Schüler wieder in die Schule kommen, müssen wir uns erst noch überlegen und uns entsprechend vorbereiten.“
Die Mutter: „Ich bräuchte Abstand, um die Ruhe zu haben, die ich für die Kinder brauche“
- Eine Mutter berichtet: Ein Stück weit war es eine Erleichterung. „Der Druck war weg“, schildert Andrea Borchhagen die Schließung der Schulen. Der Alltag stellt schon unter normalen Umständen große Herausforderungen an sie, ihren Ehemann, die 14- und zwölfjährigen Söhne und die neunjährige Tochter. Die Kinder haben alle die Diagnose Autismus und Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts)-Störung (AD(H)S). Der älteste Sohn (Hochfunktionaler Autismus mit ADS und DiGeorge-Syndrom) besucht wie seine Geschwister eine Gemeinschaftsschule im Hegau. „Das individuelle Lernen ist gut für unsere Kinder“, erzählt seine Mutter. Allerdings werde Selbststrukturierung erwartet: „Das ist bei uns nicht ohne Schulbegleitung möglich“. Zur Schulschließung war der 14-Jährige bereits zuhause: „Nach den Sommerferien war der Schulalltag mit neuen Lehrern und Klassenräumen eine Belastung. Nach wenigen Wochen konnte er nicht mehr“, so die Mutter. Jetzt kommt die Schulbegleiterin zum Homeschooling. Grundsätzlich seien die Kontaktverbote für ihn nicht so dramatisch, betont sie. Den Hobbies Lego, Computerspiele und Lesen kann der 14-Jährige zuhause nachgehen. Mehr leidet sein Bruder: Der 12-Jährige, den seine Mutter liebevoll „unser Gummiball“ nennt, möchte gerne wieder in die Schule. Er und seine Schwester seien beide ehrgeizig und interessiert. „Aber unsere Kinder brauchen jemanden, der immer neben ihnen sitzt und sie anleitet“, erklärt die Mutter. Der erste Lockdown sei eine Verschnaufpause für den 12-Jährigen gewesen, in der er viel aufholen konnte, was er in der Schule nicht geschafft habe. Andererseits durften die Schulbegleiter nicht kommen und die Eltern mussten das Homeschooling übernehmen: eine zusätzliche Belastung. Die Mutter der drei besonderen Kids hat selbst ADS und zudem eine chronische Krankheit – eine Reaktion des Körpers auf den Dauerstress. Der Tag ist durchstrukturiert von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr. Nachts müssen die Eltern abwechselnd raus, da ein Kind nicht durchschlafen kann. Die Geschwister brauchen Anleitung beim Aus- und Anziehen, beim Zubettgehen. Eine Pflegekraft und Familientherapie bringen Erleichterung. Doch das nun permanente Zusammensein ist anstrengend: „Ich bräuchte schon mehr Abstand, um die Ruhe zu haben, die ich für die Kinder brauche“, betont die 46-Jährige. Sie wirkt im Gespräch dennoch ruhig: „Ich versuche, positiv zu denken“, sagt sie.
- Das sagt die Psychologin: Dass Erwachsene mit AD(H)S gut zurechtkommen können, ist auch die Beobachtung von Monika Ade. „Menschen mit ADHS sind Meister im Bewältigen von Krisen“. Die Diplom-Psychologin und Sozialpädagogin aus Tengen-Blumenfeld macht Trainings für Betroffene und Elternkurse für Familien mit AD(H)S-Kindern. „Auch wenn der Leistungsdruck durch die Schulschließung weg ist, fehlt der gewohnte Alltag. Diese Kinder brauchen ein halbes Jahr, um Veränderungen zu verarbeiten“, so Ade. Das Lernen zuhause sei sehr anstrengend, die Nachfrage nach Kursen und Beratung gestiegen. „Durch das Homeschooling sind die Eltern näher dran, es gibt Konflikte. Der Leidensdruck wächst“, sagt die Expertin. Die für das Homeschooling wichtige Fähigkeit zur Selbstorganisation gebe es bei den Betroffenen nicht. Zusätzlich belastend seien das Kontaktverbot und der Winter-Lockdown: „Anregungen, Austausch und vor allem Bewegung fehlen. Kinder mit ADHS sind dafür geschaffen, viele Stunden am Tag draußen zu sein“.