Wenn heute eine Katastrophe passiert, weiß die ganze Welt innerhalb von Stunden davon. Im Jahr 1986 war das anders. Am 26. April 1986 geschah in Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine ein Reaktorunglück – es war ein Samstag. Doch in Stockach erfuhren die Einwohner erst Tage später davon. Die erste Eilmeldung über den nuklearen Unfall ging erst am Montagabend durch die Nachrichtenagenturen. Weitere Details kamen im weiteren Verlauf der Woche.

„Der Himmel war plötzlich gelb. So, wie wenn man denkt, dass Hagel kommt“, erzählt Manfred Schnopp, der damalige Leiter des Nellenburg-Gymnasiums in Stockach über die Tage nach dem 26. April, der für ihn ein fröhlicher Tag war – sein 46. Geburtstag. „Als ich am Montag in die Schule kam, habe ich von den Sekretärinnen eine Karte bekommen.“ Diese Geburtstagskarte hat er heute noch. Sie klebt in einem Album mit anderen Erinnerungen an die Zeit am Gymnasium. Schließlich hätten dann alle von Tschernobyl erfahren, erzählt Schnopp weiter, der auch heute noch in Stockach wohnt.

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Kein Gemüse aus Freilandanbau und Sorgen um die Ernte

Der SÜDKURIER berichtete damals über die Katastrophe und wie die Einwohner der Region sie aufnahmen. Es gab zum Beispiel in den folgenden Wochen Sorgen um die Ernten und kein Gemüse aus Freilandanbau mehr in den Supermärkten. Am 9. Mai fasste ein Artikel zusammen: „Das Thema Radioaktivität hält weiter die Bevölkerung in Atem und auch im Verwaltungsraum Stockach wächst offenbar mit zunehmend zeitlichem Abstand zum Unglück im sowjetischen Atomreaktor Tschernobyl das Gefühl der Hilflosigkeit. Stadtverwaltung, Wirtschaftskontrolldienst, Landratsamt, Schulen, Kindergärten, Ärzte, Apotheker, Forstdienststellen, Landwirtschafts- und Gesundheitsamt – über sie brach in den letzten Tagen teilweise eine wahre Flut von Anrufen besorgter Stockacher herein.“

Mitte Mai fand ein Vortrag des BUND zum Thema Strahlung im vollbesetzten Stockacher Bürgerhaus statt. Die Experten waren sich einig, dass zwar keine akute Gefahr bestehe, man jedoch Vorsichtmaßnahmen beachten sollte, da radioaktive Strahlung Wirkung auf den menschlichen Körper habe. Die BUND-Ortsgruppen Stockach und Bodman-Ludwigshafen hatten selbst Strahlenmessungen vorgenommen und berichteten bei der Veranstaltung über die Ergebnisse: Sechs oder sieben Becquerel pro Quadratmeter auf einem frischgemähten Rasen, zwei auf einer Wiese an der Nellenburg, in der Nähe wiederum fünf, im Osterholz zwei und in einer Regenpfütze bei der Parkbucht zwischen Stockach und Nenzingen 20 Becquerel. Manfred Deicher, Professor am Institut für Nukleare Festkörperphysik an der Universität Konstanz, erläuterte damals, die Normalwerte in der Region lägen bei 0,2 bis 0,3 Becquerel.

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Lehrer messen die Strahlung auf dem Schulgelände

Auch den Schulalltag prägte die Katastrophe. Einige Lehrer des Gymnasiums gingen der Strahlung nach. „Sie wussten, dass es einen Geigerzähler im Physiksaal gab“, erinnert sich Schnopp. “Sie sind mit dem Gerät über den Schulhof gelaufen und haben die Strahlung gemessen.“ Zwei Physiker hätten alle Werte notiert. Über diese Messungen war damals auch in der Zeitung zu lesen. Im Schulgebäude seien die Werte relativ normal gewesen und im Gras höher als auf Beton. Zahlen nannte der Artikel jedoch nicht. Der Lehrer, der damals federführend gewesen sei, lebe heute nicht mehr, sagt Schnopp.

Manfred Schnopp im April 1986 an seinem Schreibtisch im Nellenburg-Gymnasium. Er war damals der Schulleiter. Das Unglück von Tschernobyl ...
Manfred Schnopp im April 1986 an seinem Schreibtisch im Nellenburg-Gymnasium. Er war damals der Schulleiter. Das Unglück von Tschernobyl war an seinem Geburtstag. | Bild: Familie Schnopp

Besorgte Eltern hätten angerufen und gefragt, ob die Schule zumachen müsse, erzählt er weiter. Die Reaktionen seien aber insgesamt sehr breit gefächert gewesen – von gelassen bis überängstlich. Er habe in den Elternbriefen das Thema aufgegriffen. Leider seien diese Briefe aber nicht mehr im Schularchiv. Der SÜDKURIER berichtete am 5. Mai 1986, zu den Vorsichtsmaßnahmen habe gehört, dass die Schüler in den Pausen auf dem Schulhof nicht zu sehr toben sollten, um nicht zu viel Staub aufzuwirbeln.

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Laut eines Zeitungsberichts aus der damaligen Zeit ging von einem Kindergarten eine Elterninformation aus, in der stand: „Bitte vermeiden Sie, durch Dramatisierung der Situation Ihren Kindern Angst zu machen. Nach unseren Informationen und unserer Auffassung ist die Gefahr, die von der Strahlung ausgeht, zur Zeit erheblich geringer als die Gefahr, dass durch die Panik der Bevölkerung bei den Kindern bleibende Ängste ausgelöst werden. Ihre Besonnenheit ist für Ihr Kind jetzt lebenswichtig.“