Wie auf Kommando verstummen um Punkt 10 Uhr seine Schüler und Schülerinnen, als Richterin Melina Michalski den Großen Sitzungsaal im Amtsgericht betritt. Alle warten gespannt auf den Angeklagten. Was die 24 Realschüler- und Schülerinnen der Klasse 8b des Schulverbunds Nellenburg zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, ist, dass der Angeklagte an jenem Tag nicht zu seiner Gerichtsverhandlung erscheinen wird. Auch nicht nach einer 15-minütigen Wartezeit. Umso besser, dachten sich die zumeist 13-Jährigen. Sie nutzen die Chance, aus der eigentlichen Gerichtsverhandlung eine Fragestunde zu machen.
Das war auch im Sinne von Gemeinschaftskunde-Lehrer Sebastian Schmidt, denn der möchte mit diesem Besuch den Achtklässlern aufzeigen, „wie ein Rechtsstaat funktioniert, welche Aufgabe das Strafrecht hat, wie ein Strafprozess abläuft, wer daran beteiligt ist und welche Strafen verhängt werden können“. Dennoch herrscht erstmal wieder Stille im Saal, nachdem die Fragestunde eröffnet ist. Einzig die Zettel mancher Schüler knistern, auf den Fragen stehen wie: „Was war der schlimmste Fall?“ und „Was verdient man als Richter?“
Was passiert, wenn man nicht zur Verhandlung erscheint?
Der Lehrer macht den Anfang und möchte von der Richterin wissen, was gerade passiert ist. Damit bricht er das Eis. Die Richterin erklärt, dass der Abwesende zur Beihilfe zum Fahren ohne Fahrerlaubnis angeklagt wurde. In solch einem Fall schicke sie gerne die Polizei, um den Angeklagten abholen zu lassen. Das mache sie vor allem bei Jugendlichen aus pädagogischen Erziehungsgründen. „Es hat Folgen, wenn man zu einer Gerichtsverhandlung nicht erscheint“, mahnt die Richterin.
Da der Angeklagte allerdings aus dem Raum Stuttgart stamme, wäre die Distanz für eine Abholung zu groß. Ein möglicher Schritt wäre es, einen Haftbefehl auszustellen, welche die Polizei in Stuttgart vollstrecken würde, erläutert Michalski. Eine weitere Möglichkeit wäre ein Strafbefehl mit Geldstrafe zu verhängen. Sollte der Angeklagte dennoch nicht zahlen wollen, drohe Haft.
Ein Schüler fragt scharfsinnig, warum die Verhandlung in Stockach stattfindet, obwohl der Mann aus Stuttgart stammt. „Bei Jugendlichen nehmen wir vorrangig den Wohnort, damit Angehörige bei der Verhandlung dabei sein können.“ In diesem Fall aber fand die Tat in Stockach statt. Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, seinen Sohn ohne Führerschein fahren gelassen zu haben.
Angeklagter muss trotzdem 2550 Euro zahlen
Die Fragestunde wird kurz unterbrochen, um die Verhandlung fortzuführen. Mittlerweile sind 16 Minuten verstrichen, in der die Staatsanwältin den Angeklagten nicht erreichen konnte. Richterin Michalski sieht keine Gründe, die das Fernbleiben des Angeklagten entschuldigen. Eine Vorführung sei aufgrund des Wohnorts nicht zweckdienlich und der Erlass eines Haftbefehls würde aus „Verhältnismäßigkeitsgründen nicht in Betracht“ gezogen, fasst die Richterin zusammen. Daraufhin stellt die Staatsanwaltschaft einen Antrag, ins Strafbefehlsverfahren überzugehen. Es wird lange hin und her gerechnet, wie hoch nun die Strafe ausfallen sollte.
Richterin Michalski erklärt, dass der Angeklagte in der Zwischenzeit erneut straffällig geworden sei und deshalb auch diese Anklage mitverhandelt wird. „Der Angeklagte hatte seinen Sohn auch in Donaueschingen ohne Führerschein fahren lassen“, sagt Michalski. Es sei eine Art Sammelrabatt, erklärt die Richterin.
Die Gesamtstrafe darf die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen. „Zwei Strafen sollten nicht teurer sein als einzeln“, so die Richterin. Im Strafgesetzbuch wird das unter Paragraf 54, Absatz 2 geregelt. In diesem Fall erhält der Angeklagte – unter Einbeziehung des Strafbefehls aus Donaueschingen – eine Gesamtstrafe in Höhe von 85 Tagessätzen á 30 Euro; insgesamt also 2550 Euro.
Hanna: „Es war wie im Film und sehr interessant“
Der Fall ist erledigt und die Fragestunde geht weiter. Prompt möchte eine Schülerin wissen, welcher Fall der emotionalste war? Richterin Michalski muss nicht lange überlegen und sagt, dass sie sexuellen Missbrauch von Kindern am schlimmsten fand. Am häufigsten werden Straftaten wie Fahren ohne Fahrerlaubnis, Diebstähle und auch schwere Körperverletzung am Amtsgericht in Stockach verhandelt. Schwerwiegende Fälle wie Mord oder Totschlag würden direkt nach Konstanz ans Landgericht gehen, sagt Michalski.
Ihre Aufgabe, so Michalski, sei es, ein neutrales Urteil über eine Person zu bilden. „Bei ein, zwei Fällen hatte ich auch Mitleid, dass die Person ins Gefängnis musste.“ Bei Jugendlichen, sagt sie, hätte sie als Richterin auch einen Erziehungseffekt, indem sie durch Verwarnungen und Arbeitsstunden eine zweite Chance erhielten. Eine Aufgabe, die vielleicht auch auf die 13-jährige Leticia zukommen könnte, schließlich äußert sie nach der Fragestunde den Wunsch, Richterin zu werden. „Das selbstbewusste Auftreten der Richterin gefällt mir.“
Ihre Klassenkameradinnen Matilda und Emilie (beide 13) finden es spannend, „was es alles an Straftaten gibt und wie diese betraft werden“. Luis und Mylo (beide 13) sagen, dass es sehr spannend sei, Eindrücke von dem Beruf als Richter zu sammeln. „Wir werden den Tag nicht so schnell vergessen.“ Die 13-jährige Hanna fasst es so zusammen: „Es war wie im Film und sehr interessant.“ Wie viel Richterin Michalski verdient, wollte sie übrigens nicht sagen, nur so viel, dass man nicht reich werde, aber dennoch gut von dem Beruf als Richterin leben könne.
Zweite Verhandlung zeigt, wie Justiz funktioniert
Im Anschluss besuchte die Klasse 8b eine weitere Hauptverhandlung, die tatsächlich wie geplant stattfinden konnte, da der Angeklagte erschien. Diesmal sollte es um Trunkenheit im Straßenverkehr gehen. „Die Verlesung der Klageschrift, die Befragung des Angeklagten, das Plädoyer des Verteidigers und der Staatsanwaltschaft sowie der Urteilsspruch des Richters war für sie ein besonderes Erlebnis“, sagt Lehrer Schmidt im Nachhinein. Der Besuch im Gericht trage dazu bei, frühzeitig zu erkennen, wie wichtig das Recht für den inneren Frieden in der Gesellschaft sei und welche entscheidende Rolle die Justiz dabei spiele.