Dass Kassenpatienten oft länger auf einen Arzttermin warten müssen als Privatversicherte, ist nichts Neues. Doch die Diskrepanz wird immer größer, meldeten zumindest Leser aus der Region in den vergangenen Wochen dem SÜDKURIER. Jüngst berichtete auch der Spiegel über eine Studie, die zeigt, wie groß die Unterschiede bei Facharztterminen inzwischen tatsächlich sind. Teils handelt es sich um mehrere Monate.

Ein Leidtragender ist Roland Hildebrandt aus Eigeltingen. Er behauptet, dass er bei der Radiologischen Gemeinschaftspraxis Hegau Bodensee drei Monate auf einen MRT-Termin für seine Hüfte warten musste, während Privatpatienten in wenigen Tagen einen Termin erhalten hätten. So habe er im digitalen Terminportal Mitte April gar keinen MRT-Termin und auf telefonische Nachfrage frühestens einen am 18. Juli erhalten. „Für Privatpatienten gab es aber noch 15 Termine im April“, so Hildebrandt.

Roland Hildebrandt aus Eigeltingen ist genervt. Denn sowohl per Telefon als auch im digitalen Terminsystem erhält er als Kassenpatient ...
Roland Hildebrandt aus Eigeltingen ist genervt. Denn sowohl per Telefon als auch im digitalen Terminsystem erhält er als Kassenpatient erst deutlich später einen Termin als Privatpatienten. | Bild: Susanne Schön

Dass Kassenpatienten schlechter dastehen, daran habe er sich bereits gewöhnt gehabt. „Doch geht es um MRT- und CT-Termine hat dies mittlerweile Ausmaße angenommen, die einfach nicht mehr tragbar sind“, klagt er.

Kassenpatienten warten zwei Monate länger

Ein Selbstversuch des SÜDKURIER bei der Praxis bestätigt Hildebrandts Vorwürfe zumindest in weiten Teilen. So sind MRT-Termine für die Hüfte als gesetzlich Versicherter am Standort in Radolfzell zum Testzeitpunkt online gar nicht verfügbar, im Klinikum in Singen zumindest in knapp drei Monaten. Privatversicherte erhalten in Radolfzell einen Termin in einer Woche, im Klinikum Singen in zwei Wochen.

Doch Hildebrandt will laut eigener Aussage nicht gezielt gegen diese eine Praxis Vorwürfe erheben, sondern gegen das System. Er habe bei anderen Fachärzten in der Region ähnliche Erfahrungen gemacht, sagt er. Ein SÜDKURIER-Test bei weiteren, zufällig ausgewählten Fachärzten ergibt nahezu überall vergleichbare Ergebnisse. Warum ist das so?

Praxis bestätigt Ungleichbehandlung bei Terminvergabe

Aus der Radiologischen Gemeinschaftspraxis in Radolfzell erklären auf SÜDKURIER-Nachfrage die beiden Ärzte Nadir Ghanem und Gregor Pache und die leitenden medizinischen Fachangestellten Sonja Lutner und Dmytro Subotinii, wie die Terminvergabe in Arztpraxen tatsächlich abläuft.

„Die Ungleichbehandlung ist ein stark polarisierendes Thema, das nicht neu ist und dessen wir uns auch bewusst sind“, bestätigt Gregor Pache. Er habe Verständnis für den Ärger der Kassenpatienten. Allerdings müsse man die Perspektive der Praxen verstehen, die nicht dafür verantwortlich seien. „Es ist ein Systemproblem“, sagt der Arzt.

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Ärzte sprechen von Problem des Gesundheitssystems

Grund für die Ungleichbehandlung sei die Vergütung der Praxen im System der gesetzlichen Krankenkassen. „Das funktioniert so, dass wir eine Leistung einmal im Quartal für einen Patienten anbieten dürfen“, erklärt Pache. So werde pauschal immer ein Wert pro Patient pro Quartal bezahlt. „Ob wir einfach nur einen Finger röntgen oder einen komplizierten MRT-Termin haben, es gibt immer den gleichen Satz“, so Pache. Die Krankenkassen wüssten, dass dies den eigentlichen Wert der Leistung meist nicht deckt.

Pache erklärt weiter: „Im Bundessozialgesetz steht explizit, dass dies mittels der Abrechnung von Privatpatienten ausgeglichen werden soll. Diese Quersubventionierung ist gegeben und nicht Verschulden der einzelnen Praxen.“ Die Folge: Praxen halten ein gewisses Kontingent an Terminen pro Monat für Privatpatienten frei. Das Verhältnis liege in seiner Radiologie bei etwa einem zu drei Vierteln, was auch dem Verhältnis der Patienten im Landkreis entspreche. „Wir haben wesentlich mehr Kassenanfragen als Privatanfragen. Das erklärt längere Wartezeiten“, so der Arzt weiter.

Im Notfall werden alle gleich behandelt

Zwar stehe für die Ärzte das medizinische Wohl der Patienten immer im Vordergrund, doch eine Praxis müsse auch wirtschaftlich handeln. „Das ist vom Bundesozialgesetz genau so gewollt“, so Pache. Klar sei aber, so betonen er und sein Kollege Nadir Ghanem: „Bei Notfällen gibt es keinerlei Unterscheidung, wer dringend einen Termin braucht, findet bei uns immer einen Platz.“

Auch der Medizinische Fachangestellte Dmytro Subotinii versichert: „Wir wollen immer das Beste für den Patienten.“ Zudem würden auch die Kassenpatienten von der Quersubventionierung profitieren, da so moderne Geräte finanziert werden können, so Ghanem.

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Hildebrandts Eindruck, dass die Diskrepanz zwischen gesetzlich und privat generell größer wird, stimmen sie jedoch zu. „Das liegt daran, dass es generell immer mehr Terminanfragen gibt“, so Pache. So habe man rund 350 Patienten am Tag, etwa 16.000 pro Quartal. „Die Flut an Anfragen hat massiv zugenommen, aber der Tag hat immer noch 24 Stunden“, fasst Subotinii das Dilemma zusammen.

Steigende Patientenzahl macht Onlinebuchung notwendig

Genau aus diesem Grund setzt die Gemeinschaftspraxis zur Terminvergabe auf das Onlineportal Doctolib. An diesem gibt es jedoch Kritik. So berichtete die Verbraucherzentrale im April dieses Jahres, ein Marktcheck habe ergeben, dass Portale wie Doctolib und Jameda „alles andere als nutzerfreundlich“ seien. Demnach seien „angezeigte Arzttermine teils unpassend oder gar nicht buchbar, etwa wegen falscher Terminarten oder versteckter Kosten“.

Pache erklärt jedoch: „Wir kommen nur per Telefon einfach nicht mehr hinterher.“ Zudem biete Doctolib dank einer Wartelistenfunktion auch für Patienten Vorteile. Wird ein früherer Termin frei, kontaktiert es Wartende eigenständig. „Die meisten, die erst in drei Monaten einen Termin bekommen und als dringender Fall hinterlegt sind, bekommen letztlich doch früher einen“, bemerkt die medizinische Fachangestellte Sonja Lutner dazu.

So geht es für Kassenpatienten schneller

Doch selbst wer online keinen Termin bekommt, hat andere Möglichkeiten. „Es gibt das Kontaktformular, die E-Mailadresse, unser KI-gestütztes Telefonsystem. Wenn man uns erreichen möchte, sind wir greifbar. Spätestens in den Randzeiten rufen wir zurück“, versichert Sonja Lutner. Zudem könnten Kassenpatienten über Krankenkassen und den Hausarztvermittlungsfall in dringenden Fällen auch schneller an Termine kommen.

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Über eine grundsätzliche Lösung der Ungleichbehandlung sagt Gregor Pache: „Man müsste das System ändern. Entweder müssen die Kassen die Leistungen angemessen vergüten. Oder Politik und Krankenkassen müssten einen Grundstandard für alle Patienten schaffen.“ Ob und wie das finanzierbar ist, wisse er jedoch auch nicht.

Roland Hildebrandt hat derweil versucht, sich selbst zu helfen. Er hat sich anderweitig umgesehen und in einer anderen Praxis einen früheren Termin bekommen. Wartezeit hier: zwei Monate.