Es ist ein Klischee, dass der klassische Mensch ohne festen Wohnsitz männlich, zottelbärtig, Hundebesitzer und mindestens 50 Jahre alt ist. Junge wie Alte kann es treffen, Menschen ohne Ausbildung oder mit Hochschulabschluss. Auch Rückkehrer aus Entzugskliniken oder dem Gefängnis gehören zum bunt gemischten Klientel, berichten Catrin Schwarzenberger und Daniel Schwarzkopf, beide Sozialarbeitende des AGJ-Fachverbandes. Was viele allerdings gemeinsam haben, ist ein Drogen- oder Alkoholproblem. Nicht so Marianne B. (Name von der Redaktion geändert). „Zigaretten sind mein einziges Laster“, stellt die Anfang 60-Jährige klar. Die Haare getönt, die Fingernägel in einem dezenten Grau lackiert, schicke Bluse – äußerlich ist ihr nicht anzusehen, welche Leidensgeschichte sie hinter sich hat. Dass sie über ein halbes Jahr im Auto gelebt hat.
Ihren richtigen Namen möchte sie nicht veröffentlicht haben, denn sie ist aktuell auf Wohnungssuche. Noch wohnt sie im betreuten Wohnen für Frauen. „Bei meinen Bewerbungen gebe ich meine Adresse ungern an, denn wenn jemand Ziegelacker liest, wird man schnell in eine Schublade gesteckt. Ghetto, sozialer Brennpunkt, schwieriges Klientel...“ Doch Marianne B. war zunächst einmal froh, überhaupt eine Bleibe gefunden zu haben. „Hier oben treffen viele Schicksale aufeinander, nicht alles ist schlecht. Aber bei Dunkelheit gehe ich nicht mehr vor die Tür. Ich traue mich abends nicht mal an die Mülltonne oder in den Keller.“
Der Weg nach unten
Bei Marianne B. waren es nicht Schulden, hohe Mietrückstände oder eine drohende Zwangsräumung, die sie verzweifeln ließen. Ihre Abwärtsspirale begann damit, dass ihr befristeter Arbeitsvertrag als Erzieherin nicht mehr verlängert wurde und sie mit Ende 50 von heute auf morgen arbeitslos war. Parallel dazu ging ihre Beziehung in die Brüche. Aufgrund traumatischer Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch in der Kindheit plagten sie Depressionen und Panikattacken. „Ich war mit allem überfordert.“
Verlust des Selbstwertgefühls
Tränen schießen in ihre Augen, als sie von ihrem Eigenheim erzählt, mit antiken Möbeln und vielen Büchern eingerichtet, mit Rosen und Magnolien im großen Garten. Sie bemühte sich um einen ambulanten Therapierplatz, was nicht gelang, und zog sich sozial komplett zurück. „Nach fünf Monaten war mein Selbstwert gleich Null.“ Hilferufe in Richtung von Freunden und Bekannten verhallten ungehört. Als dann noch der Nachbar übergriffig wurde, hat sie einen Koffer geschnappt, stieg in ihr Auto und kehrte nie wieder in ihr Haus zurück. Sie gab alles auf. Monatelang lebte sie im Auto. Zum Duschen und Wäschewaschen klopfte sie bei Bekannten an. „Vor allem hat es mich getroffen, als Säuferin abgestempelt zu werden.“
Betreutes Wohnen
Irgendwann hatte Marianne B. kein Geld mehr, der Dispokredit war überschritten, der TÜV abgelaufen. „Ich lebte wie in Trance, hatte Suizidgedanken und war am Ende.“ Scham und Schuldgefühle gehörten zum Alltag. „Es kostete mich sehr viel Überwindung, mich einem Bekannten anzuvertrauen.“ Der hat sie dann sofort ins Krankenhaus gebracht, wo Marianne B. drei Wochen in der Psychiatrie blieb. Wieder in einem Bett zu schlafen, habe unbeschreiblich gut getan. „Und ein Satz rettete mir buchstäblich das Leben. Eine Therapeutin sagte zu mir: Schön, dass Sie da sind.“ Der Gang zur Wohnungslosenhilfe sei schwer, aber wichtig und richtig gewesen. Mittlerweile lebt sie mit einer Mitbewohnerin im betreuten Wohnen. „Endlich habe ich Ruhe gefunden, denn das Leben ohne Dach überm Kopf ist hart. Man wird demütig. Ich genieße es, die Tür hinter mir schließen zu können, zu kochen und zu backen.“ Sie hilft den Kinder ihrer afrikanischen Nachbarn bei den Hausaufgaben und engagiert sich als Ehrenamtliche in der AGJ-Tagesstätte in Sigmaringen. „Ich arbeite gerne in der Wärmestube, so kann ich etwas zurückgeben.“
Ein neues Leben
Schritt für Schritt baut sich Marianne B. ein neues Leben auf. Mit dem Verkauf der Doppelhaushälfte über das Amtsgericht füllte sich auch das Konto wieder. Die Ersparnisse braucht sie jetzt auf, bis sie wieder einen Job gefunden hat. Nun hofft sie, beruflich wieder Fuß zu fassen und möglichst bald in Sigmaringen eine erschwingliche Ein- bis Zweizimmerwohnung zu finden.