Drangsaliert und gedemütigt in der Kinderkur: Bis heute sind ehemalige Verschickungskinder traumatisiert, zweifeln an ihren Erinnerungen. „War ich in Bad Dürrheim? Hat das, was ich erlebt habe, dort stattgefunden?“ Diese Fragen kennt Miriam Schaubrenner. Immer wenn über das Schicksal von Verschickungskindern berichtet wird, klingelt das Telefon der Bad Dürrheimer Stadtarchivarin öfter als sonst.
Dann macht sich Miriam Schaubrenner in den alten Beständen des Kurblattes auf die Suche. Zwischen 1952 und 1963 wurde darin ein Großteil der Kurgäste namentlich begrüßt. Auch die Allerkleinsten, die zur 'Kinderkur' nach Bad Dürrheim geschickt worden waren, sind hier aufgeführt.
Erinnerungen an die Kinderkur: Wenn sich die Kehle zuschnürt
Oft kann Miriam Schaubrenner den Menschen am Telefon dann bestätigen, was sie zwar ahnen, aber nicht sicher wissen: Ja, Sie waren tatsächlich in Bad Dürrheim. Ja, Ihr Name steht auf der Gästeliste. 1961, 1958, vielleicht auch 1957.
Und womöglich finden die Anrufer dann Antworten auf die Frage, warum sie manche Situationen bis heute emotional so stark triggern, dass sich ihre Kehle zuschnürt. Warum sie Gemeinschaftsduschen oder große Essensräume nur schwer ertragen oder warum das Verhältnis zu ihren Eltern zeitlebens distanziert blieb.

Auch Jutta Simon aus Emmendingen hat eines Tages bei Miriam Schaubrenner angerufen. Auch sie war sich nicht sicher, ob sie den sogenannten Kuraufenthalt als Sechsjährige in Bad Dürrheim verlebt hat hat. Seitdem weiß sie: Sie war in Bad Dürrheim, in der Villa Hilda an der Huberstraße. Das private Sanatorium ist längst abgerissen.
„Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, krank gewesen zu sein.“Jutta Simon über ihre Zeit auf der Krankenstation der Villa Hilda
Sechs lange Wochen war sie dort. Fünf davon liegen für sie größtenteils im Dunklen. „Nach einer Woche wurde ich auf die Krankenstation verlegt und habe dort den Rest der Zeit verbracht“, sagt sie. Fünf Wochen Krankenzimmer – warum? Jutta Simon weiß es nicht. „Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, krank gewesen zu sein“, sagt sie.
Sie hat den Verdacht, dass an ihr und anderen Kindern sedierende Medikamente getestet und sie schlichtweg ruhig gestellt wurden. „Denn was macht man denn als gesundes Kind den ganzen Tag im Bett? Die Tage mussten wahnsinnig lang sein“, sagt sie heute. Medikamentenversuche – die gab es in vielen Heimen in der ganzen Republik.
Pharmazeutin untersucht Arzneimittelstudien an Verschickungskindern
Das belegt unter anderem die Dissertation der Krefelder Pharmazeutin Sylvia Wagner aus dem Jahr 2016. Sie hatte für ihre Doktorarbeit Arzneimittelstudien an Heimkindern und die Ruhigstellung der Kinder von den 1950er bis in die 1970er Jahre recherchiert und aufbereitet. Demnach kamen unter anderem Neuroleptika zum Einsatz: Präparate, die gegen psychotische Zustände verordnet werden und die stark dämpfend wirken.

Jutta Simon weiß noch, dass sie die fünf Wochen lang durchgehend im Bett liegen musste, ebenso wie drei weitere Kinder, mit denen sie das Zimmer teilte. Ihr Verdacht, dass an ihr Medikamente getestet wurden, wird von der Tatsache genährt, dass sie an die Tage vor der Krankenstation und an die Zeit der Abreise klare Erinnerungen hat.
„Warum weiß ich das alles noch genau und das andere nicht?“ Dafür erinnert sie sich noch gut daran, wie sie einmal von einer Betreuerin, die sie „Tante“ nennen musst, Finger- und Fußnägel so kurz geschnitten bekam, bis das Blut lief. Bis heute habe sie Schwierigkeiten, sich die Nägel zu schneiden. „Da zucke ich immer zusammen.“
Frühstück in der Kinderkur: Der Hass auf Haferschleim bleibt bis heute
Auch weiß sie noch, wie sie beim Frühstück den verhassten Haferschleim erbrach. „Ich sollte das dann wieder essen. Aber das habe ich nicht gemacht.“ Jutta Simon hat 47 Jahre bis zur Rente in einer großen Krankenhausküche gearbeitet, wo Haferbrei und -schleim täglich zubereitet wird. „Da hat es mir oft den Magen umgedreht.“
„Meine Mutter wollte mich eigentlich nicht wegschicken. Die Ärztin im Gesundheitsamt hat sie regelrecht bequatscht.“Jutta Simon
Nicht nur das ist der Mutter zweier Kinder geblieben. Kleine Räume ohne Fenster sind ihr ebenso ein Graus wie Aufzüge. „Ich denke, es ist das Eingesperrt-Gefühl“, sagt sie. Ihre Eltern hätten sie damals nur zögerlich in die Kur geschickt. „Bei der Einschulungsuntersuchung hieß es, ich wäre zu klein und zu dünn“, sagt Jutta Simon.
Die Mutter sei von der Idee, ihre Älteste sechs Wochen herzugeben, nicht begeistert gewesen. „Die Ärztin im Gesundheitsamt hat sie aber regelrecht bequatscht, wie gut mir das doch täte.“ Ihren Eltern mache die 65-Jährige keine Vorwürfe: „Sie haben ja nur das Beste gewollt.“
Auch Angela Koch war ein dünnes, zartes Kind, eine schlechte Esserin. Sie war vier Jahre alt, als sie 1960 von Ludwigshafen am Rhein nach Bad Dürrheim ins Haus Hohenbaden kam. Heute lebt sie in Pfullingen bei Reutlingen.

Im Haus Hohenbaden habe schon bei der Ankunft ein „Wahnsinnston“ geherrscht. Ein etwa zehnjähriger Junge, der auf der langen Busfahrt neben ihr saß und in der Zeit zu so etwas wie einem Verbündeten und großem Bruder geworden war, sei sofort von ihr getrennt worden.

Bis zu dem Aufenthalt in Bad Dürrheim sei sie immer ein braves Kind gewesen, sagt sie am Telefon. „Danach nicht mehr.“ Vieles, was die sechswöchige Kur mit ihr gemacht habe, sei ihr erst im Nachhinein klar geworden, als sie auf Anraten ihrer Tochter eine Therapie begann. An vieles, was der Kopf verdrängt hat, erinnert sich der Körper umso besser.

In der Psychologie wird das Wiedererleben traumatischer Ereignisse als Intrusion bezeichnet. Diese quälenden Augenblicke werden durch Schlüsselreize ausgelöst, häufig sind sie Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Nachwirkungen der Kinderkur: Atemnot im gekachelten Raum
„Vor Jahren war ich bei einer Kur alleine in einem gekachelten Raum mit Badewanne“, schildert Angela Koch. Ein Raum, der offenbar verdrängte Erinnerungen wieder zutage förderte. „Ich habe Atemnot bekommen und bin nur noch rausgerannt.“ Andere ehemalige Kur-Kinder aus dem Haus Hohenbaden hätten ihr zwischenzeitlich berichtet, dass sie getunkt worden seien, wenn sie nicht still in den Badewannen saßen.
„Das Verhältnis zu meiner Mutter hat sich bis zu ihrem Tod nicht mehr kitten lassen.“Angela Koch
Viele Gespräche mit anderen ehemaligen Verschickungskindern und ihre Therapie helfen Angela Koch heute, mit dem Erlebten klarzukommen. Auch für sie war es wichtig, ihre teilweise bruchstückhaften Erinnerungen mit denen anderer abzugleichen: „Das brauchst du, um dir selbst zu trauen.“

Trauriger Höhepunkt der Kur war für Angela Koch ihr fünfter Geburtstag. Gefeiert wurde nicht. Stattdessen habe eine der Betreuerinnen verkündet, dass ihre Eltern einen Brief geschrieben hätten: Sie seien sehr enttäuscht von ihrer Tochter, weshalb sie auch kein Geschenk bekomme. Eine Lüge, wie sich später herausstellen sollte.
Als ihre Mutter Angela Koch nach ihrer Rückkehr am Bahnhof abholte und umarmen wollte, habe sie sie weggestoßen. „Das Verhältnis hat sich bis zu ihrem Tod nicht mehr kitten lassen.“ Überhaupt tue sie sich schwer mit Beziehungen. Freundinnen habe sie praktisch nie gehabt.
Selbst beim Treffen der Verschickungskinder: Die Mauer zu Menschen bleibt
Und wenn, dann sei der Kontakt von ihrer Seite aus irgendwann eingeschlafen. Angela Koch versucht, regelmäßig an Treffen ehemaliger Verschickungskinder teilzunehmen, sucht den Austausch. „Aber immer mit einer Mauer zu anderen Menschen“, sagt sie. Und weint leise, als sie hinzufügt: „Wir waren einfach zu jung.“