„Welche Wünsche begraben wurden: Tränen traten mir in die Augen, als ich die Fotos durchguckte. Jedes Foto enthielt tausend Erinnerungen und Hoffnungen und wie schön jeder Moment war und wie plötzlich sie alle untergingen.“ Diese Zeilen veröffentlichte Sajjad Husaini am 23. August 2021 auf seinem Instagram-Account.

Das war einen Tag, nachdem er, seine Frau Khadija und ihre beiden Söhne Elias und Yaser aus ihrer Heimat Afghanistan geflohen waren. Ein Tag nachdem sie dem Chaos und Terror am Kabuler Flughafen in einer italienischen Militärmaschine entkamen. Ein Tag, nachdem sie ihre Familie, ihre Freunde und ihre Zukunftsträume zurückließen.

Zwölf Monate sind seither vergangen

Nun, ein Jahr später, sitzt Sajjad Husaini auf einem dunkelgrauen Ecksofa in Schwenningen, Khadija spielt mit Elias (1) und Yaser (2) im Nebenraum. Aus einer Gemeinschaftsunterkunft in Blumberg ist die Familie Anfang April in ihre eigenen vier Wände gezogen. In Deutschland ist die Familie seit dem 21. Dezember 2021. Zuvor mussten sie ihre Heimat Bamyan wegen Sajjads Arbeit mit internationalen Touristinnen und Touristen sowie ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Hazara verlassen.

Über den internationalen Evakuierungseinsatz auf dem Kabuler Flughafen verließ die Familie am 22. August ihr Heimatland. Die beiden ...
Über den internationalen Evakuierungseinsatz auf dem Kabuler Flughafen verließ die Familie am 22. August ihr Heimatland. Die beiden Kinder waren da gerade einmal neun und 20 Monate alt. | Bild: Sajjad Husaini

Inzwischen finden sie sich in ihrer neuen Heimat besser zurecht, sagt Husaini auf Englisch: „Es ist für uns jetzt viel, viel einfacher als am Anfang, als noch alles ganz neu war. Jetzt habe ich hier Freunde, sogar deutsche.“

Mittlerweile können Sajjad und Khadija auch einen Integrationskurs besuchen und der Kontakt zu Klassenkameradinnen und Klassenkameraden aus der Ukraine, Syrien oder Albanien helfe, sich „mehr zu Hause zu fühlen“, meint Sajjad Husaini. Während seiner Frau der Deutschunterricht anfangs schwergefallen sei, wisse sie ihre wachsenden Sprachkenntnisse nun immer mehr zu schätzen.

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In Deutschland haben die Husainis auch viele Afghaninnen und Afghanen kennengelernt. Über eine Facebook-Gruppe tauschen sie sich über Erlebnisse und Erfahrungen mit der neuen Kultur aus oder helfen sich gegenseitig bei Problemen. In Radolfzell hätten sie dieses Jahr mit mehr als 25 weiteren afghanischen Familien ein traditionelles Fest gefeiert, erzählt Husaini: „Da habe ich mich wie in Afghanistan gefühlt und war so glücklich.“

Familie Husaini in ihrer neuen Wohnung in Schwenningen.
Familie Husaini in ihrer neuen Wohnung in Schwenningen. | Bild: Ann-Kathrin Moritz

Schlechte Erfahrungen habe er in Deutschland bislang keine gemacht, auch wenn er über seine Kontakte hin und wieder von diskriminierenden Erlebnissen höre. Manchmal gebe es zwar Probleme bei der Verständigung, aber „da liegt das Problem ja auf meiner Seite“ und es finde sich meistens ein Weg.

Sorgen um die Familie in Afghanistan

Dennoch vermisst Husaini sein früheres Leben in Afghanistan und macht sich Sorgen um all jene, die er zurücklassen musste. „Ich bin der jüngste Sohn meiner Mutter und wäre eigentlich ihre Altersversicherung“, erklärt der 31-Jährige. Nun kann er sie nur aus der Ferne unterstützen und auch das gestaltet sich schwierig, solange er noch keine Arbeit gefunden hat.

„Hoffentlich werde ich meine Mutter eines Tages in Afghanistan wieder in die Arme schließen können.“
Sajjad Husaini

Zuhause in Bamyan sei die Sicherheitslage zwar besser als anfangs befürchtet, doch der Hunger sei ein großes Problem. Die Landwirtschaft habe derzeit mit starken Überflutungen zu kämpfen und internationale Hilfe konzentriere sich hauptsächlich auf jene Region, die im Juni von einem schweren Erdbeben getroffen wurde.

Husaini macht sich große Sorgen, dass er seine Familie in Afghanistan viele Jahre lang nicht mehr treffen wird. „Manchmal denke ich: Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Aber hoffentlich werde ich meine Mutter eines Tages in Afghanistan wieder in die Arme schließen können.“

Bis zu sechs Stunden lang stieg Sajjad Husaini in seiner Heimat Bamyan auf die Berge hinauf, um dann die Abfahrt genießen zu können.
Bis zu sechs Stunden lang stieg Sajjad Husaini in seiner Heimat Bamyan auf die Berge hinauf, um dann die Abfahrt genießen zu können. | Bild: Sajjad Husaini

Die Erinnerungen an sein Heimatland und die Ereignisse rund um die Flucht seiner jungen Familie will der 31-Jährige bewusst am Leben erhalten. Momentan sei er zwar froh, dass sich seine Söhne Elias und Yaser nicht an die chaotischen Szenen in Kabul erinnern können. Doch wenn sie älter sind, möchte er ihnen mehr darüber erzählen, wie sie ihr neues Leben in Deutschland begonnen haben – in einer anderen Welt, wie er selbst sagt. Husaini ist sich sicher: „Das wird sie stärker machen.“

Wieder im Tourismus arbeiten

Am nächsten Tag habe er einen Termin mit der Schwarzwald Tourismus GmbH in der Nähe von Schönwald – dort hoffe er, früher oder später eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle zu bekommen. „Ich würde sehr gerne im Bereich Tourismus und Skifahren arbeiten, weil das mein Hobby und mein Job in Afghanistan war.“

Vor seiner Flucht war Husaini, der Jura studiert hat, eine der großen Skisport-Hoffnungen Afghanistans, beinahe hätte er es als erster Afghane überhaupt zu Olympia geschafft. Auch diesen Traum musste er durch die Machtübernahme der Taliban zurücklassen.

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Im kommenden Winter könnte er nun die Chance bekommen, wieder auf seinen geliebten Skiern zu stehen, erzählt Husaini: „Ich stehe mit einigen Leuten in der Schweiz in Kontakt und hoffe, dass ich zumindest für zwei, drei Wochen hinfahren und beim Ski-Alpin-Weltcup als Freiwilliger dabei sein kann.“

Aufgrund dieser Aussichten fühle er sich wieder nützlicher, sagt Husaini: „Zuhause zu sitzen und nichts zu tun zu haben, ist etwas langweilig. Wir sind zwar auch viel mit dem Rad im schönen Schwarzwald unterwegs, aber das ist nichts, was ich für immer machen kann.“

Sie wollen nach vorne schauen

Manchmal, erzählt Husaini noch, führe er mit seiner Frau lange Gespräche über all das, was sie hatten und in Afghanistan zurücklassen mussten. Doch dann seien sie beide der Meinung, dass sie nicht in der Vergangenheit stehen bleiben sollten. „Wir dürfen die Vergangenheit nicht vergessen, aber wir müssen nach vorne schauen und dafür sorgen, dass wir und unsere Kinder eine gute Zukunft in Deutschland haben.“