Sajjad Husaini hatte einen Traum. Zusammen mit seinem Teamkollegen Ali-Shah Farhang wollte sich der junge Skiathlet für die Olympischen Winterspiele 2018 in Südkorea qualifizieren – als erster Vertreter Afghanistans in der Geschichte des Wettkampfs. Ein Jahr zuvor waren die beiden bereits die ersten afghanischen Teilnehmer der Alpinen Skiweltmeisterschaft in St. Moritz gewesen. „Aber wir haben die Qualifikation leider nicht geschafft“, sagt Husaini auf Englisch.
Erst kam die Pandemie, dann die Flucht
„Dann wollten wir es 2022 schaffen, aber viele Dinge sind in dieser Zeit in Afghanistan passiert. Erst kam die Pandemie, dann die Probleme mit den Taliban.“ Nun wohnt der 30-Jährige in einem kleinen Appartement in Blumberg. Auch seine Frau Khadija und die beiden Söhne Yaser und Elias sind bei ihm. Für sie begann am 22. August 2021 ein neues Leben, als sie in einem italienischen Militärflugzeug den Kabuler Flughafen und ihre Heimat hinter sich ließen.

Mit 19 Jahren stand Husaini das erste Mal auf Skiern. Damals war er gerade mit seiner Familie aus dem Iran in seine Heimat Bamyan zurückgekehrt. 13 Jahre lang hatten sie dort nach der ersten Machtübernahme der Taliban im Jahr 1996 als Geflüchtete verbracht. Schon während dieser Zeit habe er von den Bergen geträumt, sagt Husaini: „Ich hoffte immer, in mein Heimatdorf zurückzukehren. Ich erinnerte mich nicht gut an das Dorf und an die Berge, aber meine Eltern sprachen viel davon.“
Zwölf Monate Training in der Schweiz
Zurück in der Heimat lernte er das Skifahren vom Schweizer Journalisten Christoph Zürcher, der in Bamyan einen Ski-Club gründete. Mit 23 Jahren begann Husaini professionell zu trainieren. Drei Monate im Jahr konnten er und sein Kollege Farhang in den Jahren zwischen 2014 und 2018 zum Training in der Schweiz – das Sponsoring einer Schweizer Firma ermöglichte den beiden Afghanen diesen Schritt.
Nach der gescheiterten Qualifikation endete diese Unterstützung jedoch. Zum Training hätten sie dann nur noch nach Pakistan gehen können, aber dort seien die Pisten nicht wirklich geeignet. Die Pandemie setzte schließlich den Reisen ein Ende. Eine Teilnahme an den Winterspielen 2022 in Beijing rückte in immer weitere Ferne. Mit der Machtübernahme der Taliban, der Flucht aus Afghanistan und dem Ankommen in Deutschland musste Husaini seine Ambitionen endgültig aufgeben – auch das Skifahren, vorerst zumindest.
„Du denkst nicht darüber nach, was im Land vorgeht, denkst nicht an die Explosionen.“Sajjad Husaini
Was ihm der Sport in Afghanistan bedeutete, beschreibt Husaini heute so: „Wenn du den Berg fünf, sechs Stunden hinaufläufst und dann die Spitze erreichst und herunter guckst – dann weißt du: Jetzt hast du es geschafft. Du denkst nicht darüber nach, was im Land vorgeht, denkst nicht an die Explosionen.“ Das Leben sei auch in diesen Jahren nie einfach und ganz anders als in Deutschland und Europa gewesen, sagt Husaini. „Hier ist der Zweite Weltkrieg lange her. Aber in Afghanistan herrscht seit mehr oder weniger 40, 50 Jahren immer Krieg.“
Auch wirtschaftlich hatte der Sport für die beiden Athleten und die Region eine wichtige Bedeutung. Husaini arbeitete nicht nur als Skilehrer, sondern baute auch ein Tourismusunternehmen mit auf. Hunderte Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt seien pro Jahr in die Region gekommen. „Wir haben wirklich auf eine strahlende Zukunft für Bamyan gehofft.“ Sie hätten außerdem auf die Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen hingearbeitet – bei sportlichen Angeboten seien immer beide Geschlechter vertreten gewesen.

Niemand hatte so schnell mit den Taliban gerechnet
All diese Bemühungen wurden zunichte gemacht, als am 15. August 2021 die Taliban in Kabul erneut die Macht übernahmen. Eher zufällig befand sich Husaini zu diesem Zeitpunkt bereits in der Hauptstadt. Seine Heimat Bamyan – 180 Kilometer weiter westlich – hatten die Kämpfer bereits am Vortag unter ihre Kontrolle gebracht. Niemand in seinem Umfeld habe mit dieser schnellen Machtübernahme gerechnet, sagt Husaini. Nach dem Abzug der US-Truppen, „rechneten wir vielleicht mit fünf, sechs Monaten.“
Ein Bekannter brachte seine Frau und die zwei kleinen Kinder dann von Bamyan nach Kabul. Über verschiedene Kontakte versuchte die Familie Plätze in einem der internationalen Evakuierungsflüge zu erhalten. Eine französische Journalistin habe ihnen schließlich einen Platz auf einem Charterflug nach Frankreich zugesichert, so Husaini.
Dramatische Flucht
Den Großteil ihres Gepäcks ließ die Familie zurück, nur zwei Rucksäcke nahmen sie mit. Den neun Monate alten Jungen trug Sajjad Husaini in einer Trage vor dem Bauch, um den Eineinhalbjährigen kümmerte sich seine Frau Khadjia. „Als wir am Flughafen ankamen, war es noch viel schlimmer, als es im Fernsehen aussah“, erinnert sich Husaini. Ständig seien Schüsse gefallen und niemand habe Rücksicht auf Familien mit Kindern genommen, „es waren ja tausende Familien da“. Zahlreiche Checkpoints und Probleme musste die Familie bewältigen, bis sie das Innere des Flughafens erreicht hatte.
Eine schwierige Entscheidung
Doch noch immer lag zwischen ihnen und den internationalen Evakuierungstruppen die Startbahn. Husaini sagt, er habe dann das italienische Militär angerufen: „Sie sagten mir: Ihr seid auf der falschen Seite. Ihr müsst rausgehen und durch das richtige Tor wieder reinkommen.“ Seine Frau Khadija und er hätten dann eine schwere Entscheidung getroffen, so Husaini: Sie beschlossen, sich zu Fuß auf den Weg über die Startbahn zu machen, auch wenn sie dabei in Lebensgefahr geraten würden. „Wir sagten uns: Ob uns die Taliban außen töten oder wir hier sterben, macht keinen Unterschied.“

Dann seien sie aufgehalten worden und schließlich doch in einem Auto an die richtige Stelle gebracht worden. Noch einmal hätten sie im internationalen Teil des Flughafens drei Tage ausharren müssen. Dann endlich brachte sie ein italienisches Militärflugzeug in Sicherheit.
Hoffnung auf Neustart in Blumberg
Nach Zwischenstationen auf Sardinien und im norditalienischen Varese ist die Familie nun in Blumberg angekommen. Hier hofft Husaini auf bessere Arbeitsperspektiven als in Italien. Um möglichst schnell einen Job zu finden und für seine Familie sorgen zu können, versucht er täglich fünf Stunden Deutsch zu lernen – ein Freund unterrichtet ihn digital. In seinen alten Beruf als Skilehrer zurückzukehren, werde wohl schwierig, schätzt Husaini. „Aber es wäre sehr schön, meine Erfahrungen im Skifahren weiterzugeben, selbst wenn sie mich in einer Skifabrik gebrauchen könnten.“
„Sie haben hunderte, tausende Menschen jedes Jahr getötet. Wie können wir solche Menschen im Sport vertreten?“Sajjad Husaini
Husainis Traum von einer Teilnahme an den Olympischen Winterspielen ist in weite Ferne gerückt. Denn selbst wenn er noch einmal die Chance dazu bekommen würde, könnte er sich nicht vorstellen, ein Afghanistan unter den Taliban zu vertreten, sagt Husaini. „Sie haben hunderte, tausende Menschen jedes Jahr getötet. Wie können wir solche Menschen im Sport vertreten?“

Er hoffe nun darauf, mehr Anschluss in der Stadt zu finden, nach Möglichkeit auch im Blumberger Skiclub. Und vielleicht kann er irgendwann, zumindest im Urlaub, wieder auf seinen geliebten Skiern stehen.