Frau von Boetticher, Sie waren 60 Tage lang für eine Dokumentation in Afghanistan. Wie haben Sie sich vorbereitet?
Wir haben über ein Jahr geplant und waren dann vom 1. Februar bis zum 31. März vor Ort. Die Vorbereitung hat so lange gedauert, weil jeder Journalist, der in ein Krisengebiet reist, ein Training bei der Bundeswehr machen sollte. Das wurden aber wegen Corona immer wieder abgesagt.
Nach dem Fall von Kabul vor einem Jahr haben wir gesagt, dass wir nicht länger warten können. RTL hat sich dann entschieden, ein privates Training in Großbritannien zu organisieren. Das hat Ende November stattgefunden, deshalb konnten wir dann Anfang des Jahres fliegen.
Wie sieht so ein Krisentraining aus?
Man wird notfallmedizinisch auf das Schlimmste vorbereitet. Zum Beispiel auf lebensgefährliche Schussverletzungen, oder wenn man auf eine Mine tritt und ein Bein oder ein Arm abgesprengt wird. Autounfälle sind eigentlich das größte Risiko, weil es in diesen Ländern keine guten Straßen, keine guten Autos und auch oft keine Sicherheitsgurte in den Autos gibt. Aber auch wie man Minen und Sprengfallen erkennen kann.
Man wird auch darauf vorbereitet, was man macht, wenn man entführt wird. Der Trainer – ein ehemaliger Spezialeinsatzsoldat – hat gesagt, ‚wenn ihr entführt werdet, einfach entführen lassen, nicht wehren.‘ Weil es im ersten Moment darum geht, zu überleben. Wenn man sich wehrt, wird man wahrscheinlich sofort erschossen.
In Afghanistan waren Sie nicht alleine unterwegs. Wie war ihr Eindruck, als Sie vor Ort waren?
Für uns in Deutschland ist die Vorstellung von Afghanistan, dass man in ein unglaublich gefährliches Land reist. Das war es auch in den vergangenen 20 Jahren, wo man sich nicht frei bewegen konnte. Als wir [mit vor Ort waren ein Kameramann und der Afghanistan-Experte Christoph Klawitter, Anm. d. Red.] angekommen sind, waren wir überrascht, wie friedlich das Land unter den Taliban wirkt.
Man muss natürlich sagen: Diejenigen, die davor für die Anschläge verantwortlich waren, sitzen jetzt im Präsidentenpalast und haben offenbar keinerlei Interesse, noch Anschläge zu verüben. Und dadurch, so grotesk sich das anhört, ist Afghanistan jetzt vielleicht sicherer als vorher.
Kam es trotzdem zu Situationen, in denen Sie in Gefahr waren?
Wir sind in ein kleines Dorf gefahren, sieben Stunden Autofahrt von Kandahar entfernt. Ich wollte dorthin, weil das Dorf im Herzen der Taliban-Region liegt. Als wir angekommen sind, war ich die einzige Frau auf der Straße, weil es in dieser Gegend keine Frauen in der Öffentlichkeit gibt. Nicht erst seit den Taliban, sondern schon lange vorher.
Meine Anwesenheit als Frau war schon Spektakel genug, wir waren innerhalb von drei Minuten von 50 bis 100 Männern und Jungs umringt. Ich wollte eigentlich mit den Menschen ins Gespräch kommen, aber es hat sich sehr schnell rausgestellt, dass das nicht möglich ist. Die Männer haben darüber diskutiert, ob sie mich entführen sollen, weil ich die Hijab-Pflicht [Pflicht der Frau zur Verhüllung, Anm. d. Red.] nicht richtig beachte.
Dann sind wir sofort wieder abgefahren. Man kann die Auslegung, wie eine Frau sich zu verhüllen hat, sehr breit fassen. Ich hatte das an, was ich auch in Kandahar und Kabul getragen hatte, eine Art Sack-Oberteil, wo man keine weiblichen Formen erkennen kann, und ein Kopftuch, was eng gebunden war. Man muss auch betonen: Das waren die normalen Männer aus diesem Dorf, nicht die Taliban.
Das war erschreckend und für mich auch eine Erkenntnis, dass die Taliban nicht das einzige Problem für die Frauenrechte und für die Bildung von Mädchen sind. Sie haben ein sehr radikales, fundamentalistisches Weltbild, aber sie stoßen auf Strukturen, die das durchaus begrüßen. Wir haben sehr viele Männer getroffen, auch in den Städten, die es eigentlich gar nicht schlecht finden, dass die Taliban jetzt an der Macht sind.
Wie war der Umgang der Taliban mit Ihnen als westliche Medienvertreterin?
Die Taliban erlauben eine (kurze Denkpause) relativ freie Berichterstattung. Das war sehr überraschend. Man muss erst eine Genehmigung holen, damit geht man dann zum zuständigen Ministerium, bekommt eine Arbeitserlaubnis und eine Art Presseakkreditierung für das Land. Ohne die würde ich auch auf keinen Fall irgendwas machen, die muss man ständig vorzeigen.
Die Ansage ist, ‚ihr dürft alles berichten, solange es die Wahrheit ist.‘ Wenn wir zum Beispiel in Kabul die Drogensüchtigen filmen wollen, ist das ein wunder Punkt für die Taliban, weil das natürlich ein schlechtes Licht auf das Land wirft. Eigentlich wollen sie das nicht, aber sie verbieten es auch nicht. Dennoch haben sich unsere Interview-Partner unwohl gefühlt. Aber alles, was wir filmen wollten, durften wir auch filmen.
Die Dokumentation trägt den Titel „60 Tage Frauenhass“. Haben auch Sie den Hass persönlich erlebt?
Ich war die Verantwortliche eines Männer-Teams. In einem Land, wo Frauen nichts zu sagen haben, ist das eine riesige Herausforderung. Weil die Männer – nicht nur die Taliban, sondern die afghanischen Männer – nicht mitbekommen sollten, dass ich das Team geführt habe. Das würde in ihrem Weltbild die Ehre meiner Begleiter schwächen und sie würden nicht mehr ernst genommen werden. Das wäre dann auch zu meinem Nachteil, weil sie auch mein Schutz vor Ort sind.
Wie haben die Frauen in Afghanistan darauf reagiert, dass Sie über ihre Situation berichten wollen?
Ich war erstaunt, wie offen eigentlich alle Frauen mit uns geredet haben. Das hat am Anfang gedauert, bis sie uns vertraut haben. Wir hatten die ersten zwei bis drei Wochen nur männliche Interviewpartner, weil die Frauen sich noch nicht getraut haben. Als wir uns kennengelernt haben, und sie auch wussten, wo die Dokumentation gezeigt wird, war das kein Problem.

Sie selbst sind in Konstanz aufgewachsen. Wie kamen Sie vom Bodensee nach Kabul?
Konstanz ist für mich der schönste Ort der Welt. Die Bodenseeregion ist wirklich wunderschön, und egal, wo ich in Deutschland bin, mich zieht es immer wieder nach Hause. Aber wenn man die Welt entdecken will, ist Konstanz nicht so ganz der perfekte Ort, deshalb bin ich zum Fernsehen gegangen. Ich bin sehr neugierig und will die ganze Welt sehen, und die Geschichten, die die Welt bewegen.
Ich weiß noch, ich war zur Schulzeit in Konstanz auf dem Heinrich-Suso-Gymnasium, da habe ich meinen Freunden erzählt, dass ich Kriegsberichterstatterin werden will, wie Antonia Rados. Sie ist mein Idol gewesen. Dann haben natürlich erst mal alle gelacht. Als ich dann zum Fernsehen gegangen bin, ist der Wunsch, an die Orte zu gehen, wo man seine Komfortzone verlassen muss, geblieben.