Fünf Jahre hat Gisela Rösch vom Kirchenförderverein gebraucht, um den Grünen-Politiker Cem Özdemir als Redner auf die Kanzel von St. Johann zu bekommen.
Und die Mühe hat sich gelohnt. Sein Vortrag „Kompromiss als Lebenselixier der Demokratie“ lockte so viele Zuhörer in die Donaueschinger Stadtkirche, dass zusätzliche Bänke aufgestellt werden und die Anwesenden zusammenrücken mussten.
Bundesminister erkundet die Quellstadt
Donaueschingen ist für Özdemir nicht unbekannt. Er war schon öfter hier. Zuletzt zum 70. Geburtstag von Wolfgang Kaiser, dem ehemaligen Schatzmeister der Grünen. Es sei wunderschön hier, so Özdemir.

Um 15.30 Uhr war er mit dem Auto angereist, anschließend ging es ins Pfarrhaus zum Kaffee mit Pfarrer Erich Loks, Oberbürgermeister Erik Pauly und Gisela Rösch. Er freue sich, dann noch etwas Zeit zu gehabt zu haben, um sich umzuschauen, natürlich mit einem Abstecher zur Donauquelle.
Besuch bei Friedrich Hucke
Auch dem Künstler Friedrich Hucke stattete Özdemir in seinem Atelier in der Karlstraße kurzerhand einen Besuch ab. „Özdemir war sehr freundlich und neugierig“, so Friedrich Hucke über den bekannten Gast. Besonders lange habe er sich an dem „Dystopia“-Bild der neuen Ausstellung aufgehalten, welches ein brennendes Brandenburger Tor zeigt, wie Hucke die Stippvisite Revue passieren lässt.

Premiere auf der Kanzel
Ob er schon einmal von einer Kanzel gesprochen hat? Nein, sagt Cem Özdemir. Der Auftritt in Donaueschingen sei für ihn eine Premiere. Aber er habe schon in Kirchen gesprochen, unter anderem am Vormittag in Gönningen bei Reutlingen zum Tulpenfest.
Eine geschichtsträchtige Kanzel, auch habe er immer wieder auf die Fürstenloge geschaut, ob jemand von der Fürstenfamilie da sei. „Es sind alles tolle Kanzelredner gewesen, die hier gesprochen haben“, so Özdemir. Die Liste habe er im Vorfeld studiert.
Erinnerung an Gerhard Baum
Dabei beschäftigt einer ihn besonders: Im vergangenen Jahr hätte Gerhard Baum reden sollen. Das FDP-Urgestein musste damals aber wegen Krankheit absagen und ist dann verstorben. Er habe mit Baum in der Theodor-Heuss-Stiftung gearbeitet und habe ihn sehr geschätzt. Deshalb habe er auch beschlossen, seine Rede mit einem Zitat von Gerhard Baum zu schließen, um an diesen „ganz großartigen Liberalen“ zu erinnern, der heute fehle.
Zu seiner angekündigten Kandidatur als Ministerpräsident wollte sich Özdemir aber nicht äußern. „Da fließt noch viel Wasser die Donau hinunter“, sagt der Grünen-Politiker.
Die 30. Donaueschinger Kanzelrede wurde von Andreas Rütschlin an der Orgel umrahmt und startete passend mit Variationen über die Nationalhymne „Einigkeit und Recht und Freiheit“ von Joseph Haydn.
Als Cem Özdemir dann die Kanzel betrat, war es still in der Kirche. Erst nach seinem etwa 30-minütigen Vortrag brach lange andauernder Beifall bei den Zuhörern aus.

Denn von Anfang an fesselte Özdemir die Gäste, zunächst mit seiner eigenen Biographie. Dass er als Sohn türkischer Gastarbeiter in Bad Urach geboren wurde, ist den meisten bekannt. Weniger bekannt ist die Geschichte seiner Eltern und Großeltern, die sich im Spannungsfeld verschiedener Volksstämme und Auslegungen des Glaubens bewegten.
Diese Erzählungen prägten den jungen Cem. Er habe früh gelernt, dass nicht immer die eigenen Leute die Guten und die anderen die Bösen sind. Er habe eine tiefe Skepsis gegen jede Art von Nationalismus, religiösen Eifer und Fanatismus jeder Art. Niemand sei exklusiv im Besitz der Wahrheit.
Der Kompromiss als Lebenselixier der Demokratie
Und er habe gelernt, Kompromisse zu schließen. Er stehe jetzt als Politiker auf der Kanzel. Vielleicht habe Gott etwas dagegen? Oder mache er Kompromisse? Auf jeden Fall verteile er den Irrsinn und die Unvernunft halbwegs gleichgültig unter all seinen Schäfchen auf dieser Erde.
Denn überall finden sich laut Özdemir Menschen, die anderen Leid antun, nach ihrem Land und Besitz trachten und sie verfolgen, wenn sie anders denken. Wunden könne man aber auch zufügen durch Worte, Überheblichkeit und Besserwisserei. Oder kurz: durch Kompromisslosigkeit. Das dürfe man nicht zulassen.

Damit kam Özdemir zum Kernthema: „Der Kompromiss als Lebenselixier der Demokratie“. Jeder müsse bereit sein, über den Standpunkt des anderen nachzudenken. Beispielsweise in den derzeitigen Koalitionsverhandlungen. Etwa in Bezug auf den Christdemokraten Friedrich Merz, dem einige vorwerfen, er habe sich der SPD unterworfen, und den wiederum die anderen aufforderten, noch mehr auszugeben, um das Land voranzubringen.
Mehr Mut zum Nachgeben
Özdemir verteidigte die Entscheidung der Grünen, der Verfassungsänderung zur Lockerung der Schuldenbremse zuzustimmen. All das seien Kompromisse.
Zum Thema politische Mitte sagt er im anschließenden Gespräch: „Wir selbst streiten wie die Kesselflicker in der Politik. Da müssen wir uns nicht wundern, wenn die radikalen Ränder immer stärker werden. Der politische Mitbewerber ist ein Konkurrent, aber kein Feind. Deshalb muss man so übereinander sprechen, dass man sich nach dem Tag nach der Wahl nicht erst einmal entschuldigen muss.“
Trump als mahnendes Beispiel
Alle müssen mutig genug sein, gegenseitig nachzugeben, um gemeinsam voranzukommen. Als abschreckendes Beispiel führte er die Entwicklung in den USA an. Es sei ein Ort geworden, in dem sich Hass, Gewalt und Kompromisslosigkeit wie eine ansteckende Krankheit verbreiten.
Immer mehr Menschen glauben das, was sie glauben wollen. Es sei kein Zufall, dass Donald Trump die Medien gängelt und aus dem Weißen Haus ausschließt und stattdessen obskure und primär ihm loyalen Persönlichkeiten involviert.
Er lasse keinen Standpunkt zu außer seinem, wobei man manchmal den Eindruck habe, dass er seinen eigenen Standpunkt selbst nicht kennt. Er wolle keinen Kompromiss. Denn ein Kompromiss erkennt an, dass die Gegenseite ein berechtigtes Anliegen hat und sucht nach einer Lösung zum Wohle aller. Trump hingegen gehe nach dem Motto vor: „Ich habe Macht, die Lösung hat vor allem mein eigenes Wohl als Ziel. Dein Schicksal kümmert mich nicht“. Wenn er damit durchkomme, bedeute dies das Ende der amerikanischen Demokratie.