Marcel Klinge hat 2017 für die FDP einen Sitz im Deutschen Bundestag erhalten. Der 40-Jährige, der in Villingen aufgewachsen ist, hat kaum Chancen, dass er seinen Platz im Parlament auch nach der Wahl Ende September verteidigen kann. Das Direktmandat im Wahlkreis scheint unerreichbar. Für die Landesliste hatte er im Oktober auf eine Kandidatur verzichtet. Er selbst sagte vergangenen Herbst zum SÜDKURIER: „Damit ist nach dieser Legislaturperiode ein guter Zeitpunkt für etwas Neues.“ Klinge macht seit über 20 Jahren ehrenamtliche Politik für die Freien Demokraten.
Tourismus zielt auf die Politik
Jetzt zeichnet sich ab, in welche Richtung er sich entwickeln will. Klinge macht aus einem großen Branchenproblem eine Tugend. Er ist, wie er jetzt auf Anfrage bestätigte, Gründungsmitglied einer Denkfabrik, die sich um bessere Lösungsmöglichkeiten für Tourismus, Hotellerie und Gastronomie sowie Zulieferer wie Brauereien, Rösterei und andere Lebensmittelhersteller kümmern will.

„Wir wollen hier die Politik und die Praxis zusammenbringen“, formuliert er zu den Beweggründen. In seiner Fraktion ist er der Tourismusexperte. Union der Wirtschaft nennt sich die Organisation, die ihre Gründungsversammlung schon hinter sich hat. Gründungsmitglieder außer Klinge unter anderem: Ein Hamburger Sternekoch und: Alexander Aisenbrey, Direktor des Hotels Öschberghof in Donaueschingen. Langfristig möchte die Union der Wirtschaft nach eigenen Angaben die Realisierung eines Bundesministeriums für Wirtschaft und Tourismus als Ansprechpartner für die gesamte Wertschöpfungskette, von Industrie über Zulieferer, den Handel bis zu den Dienstleistern.
„Vertrauen in Politik ging verloren“
Aus Marcel Klinge springen die Sätze geradezu heraus, wenn er auf das Thema angesprochen wird: „Viele in der Branche haben den Glauben an die Politik verloren“, sagt er und verweist dazu „auf viele Gespräche, auch im Wahlkreis“. Der zweite Lockdown habe „die Dienstleister schwer getroffen – eine Wiederholung“, so stellt er fest, „gilt es zu verhindern. Das Rating der Branche müsse in der Politik verbessert werden, lautet eine der zentralen Vorstellungen des Vereins, der sich seit Ende Mai 2021 in Gründung befindet.
Wie schwierig ist das Agieren?
Aber ist das alles so einfach? Wie er beispielsweise den baden-württembergischen Gesundheitsminister Manfred Lucha von den Grünen dazu bringen will, bei einer starken vierten Welle keinen Lockdown mehr im Land zu verhängen, beantwortet er so: „Wir konzentrieren uns auf die Bundesebene.“
Klinge und Aisenbrey wollen eine Botschaft in die Entscheider hämmern: „Hotellerie und Gastronomie sind keine Pandemie-Treiber.“ Und: „Der Lockdown darf sich nicht wiederholen.“
Aisenbrey will Branchenfehler anpacken
Alexander Aisenbrey ist auch Vorstandsmitglied bei der Vereinigung Fair-Job-Hotels. Er sieht auf dieser Ebene viele Versäumnisse in der eigenen Branche. „Wir müssen unsere Ausbildungsberufe wieder attraktiv machen“, fordert er. Und: „Die Viruskrise hat es ans Licht gespült, was wir alle jahrelang falsch gemacht haben.“

Die Zahl der Auszubildenden sei „in der Branche insgesamt von 100.000 auf 50.000 zuletzt gesunken – da müssen doch die Alarmglocken klingeln“, warnt er. Es gelte, den Azubis moderne Themen wie Kommunikation und soziale Kompetenz zu vermitteln, „damit wir unsere Gäste begeistern können“, dann ist es doch egal, ob am Tisch von links oder rechts eingedeckt wird, schildert er. Er macht klar: Was an Lehrstoff vermittelt und bei Prüfungen abgefragt ist, hält er für „verstaubt und nicht mehr relevant in dieser Zeit mit unseren Herausforderungen“. Im Gespräch mit dem SÜDKURIER legt er zur Verdeutlichung nach: „Es ist doch so: Wer Hotelfachfrau gelernt hat, der möchte halt nicht die ersten drei Jahre nach der Ausbildung im Restaurant arbeiten“, sagt er mit viel Dampf in der Stimme.
Landwirtschaft, Automobil, Chemie – alle diese Branchen hätten ein viel besseres Rating als das Gastgewerbe in den Entscheidungsebenen der Politik, beobachtet er. Aus seiner Sicht müssten Veränderungen so angestoßen werden: Es gelte, „Lösungsvorschläge aus der Branche direkt an die Entscheider heranzutragen und dort alles schlüssig zu erklären.“
Was die Branche benötigt
Generell brauche es seiner Darstellung nacg aktuell die „dauerhaft reduzierte Mehrwertsteuer und ein reformiertes Einwanderungsgesetz“, nennt er weitere Forderungen, die vor allem die Fair-Job-Hotel-Vereinigung vertrete.
Ein Trend in den Corona-Monaten entwickelte sich so: Eine Folge der Krise in der Dienstleistungsbranche der Beherbergungs- und Bewirtungsszene ist der Verlust von vielen angestammten Mitarbeitern. Viele nutzten Chancen, sich während Corona nachzuqualifizieren und starteten neu im Bereich der Gesundheitsbranche, etwa als Pfleger. Diese oft auch saisonal beschäftigten Mitarbeiter stehen vielfach nicht mehr für ihren bisherigen Arbeitgeber zur Verfügung.

Aber: Was wollen Klinge und Aisenbrey mit der Uni der Wirtschaft und damit noch einem weiteren Beratungsanbieter? Klinge bestätigt: „Es gibt 35 Tourismusverbände in Deutschland mit bundespolitischen Ansprüchen.“ Mit der Denkfabrik unterscheide man sich aber erheblich. „Wir denken fünf Jahre nach vorne und sid überhaupt nicht im Tagesgeschäft drin“, erklärt er. Ziel sei es, funktionierende Lösungen zu definieren und die Wege, diese umzusetzen.
Auch eigene Firma angemeldet
Marcel Klinge betont, dass er der ehrenamtliche Vorsitzende der Union der Wirtschaft sei. Alexander Aisenbrey fungiere als Vizepräsident. Die Idee zum politischen Agieren sei bei einem Treffen im vergangenen Sommer entstanden.
Ab Oktober 2ß21 will sich der FDP-Politiker diesen Zielen widmen. Bis zur Wahl Ende September beabsichtige er „einen engagierten Wahlkampf zu führen. Nicht alle Wahlkämpfer können immer einen Platz im Bundestag finden“, äußert er und fügt hinzu: „Ich sehe das jetzt insgesamt sportlich.“ Die neue Aufgabe wartet schon. Klinge erklärt, er habe auch privat eine eigene Firma in Gründung. Sie sei bereits im Handelsregister angemeldet. Als Berater wolle er bei der Lösung der Herausforderungen im Tourismusbereich insgesamt lösungsorientiert mitwirken, betont er.