Herr Westermann, Sie haben schon vor einiger Zeit über erhebliche Bildungslücken durch die Corona-Situation gesprochen. Das ist nun drei Monate her. Wie dramatisch ist die Situation mittlerweile?

Die Bildungslücken sind natürlich größer geworden. Es gibt aber auch merkliche Defizite bei den sozialen Kontakten. Das ist eigentlich die zweite große Lücke, die sich auftut. Wir werden sowohl bei den Bildungslücken als auch bei der sozialen Kompetenz massiv nachjustieren müssen.

Wie genau werden diese Lücken denn für Sie und Ihre Kollegen sichtbar?

Das wird schon dadurch sichtbar, dass wir über den Online-Unterricht nicht alle Schüler erreichen. Und dass wir dadurch nicht die Kontrollmöglichkeiten haben, die es im Präsenzunterricht gibt. Wenn die Schüler ihre Hausaufgaben zu Hause machen und sie online kontrolliert werden, dann ist das natürlich etwas anderes, als wenn ein Schüler bei mir im Klassenzimmer sitzt. Wie gut oder schlecht die Aufgaben gemacht werden, ist viel schwerer zu kontrollieren. Und wer die Aufgaben gemacht hat, wissen wir auch nicht. Gerade in der Woche, als alle Schüler und Kollegen anwesend waren, war zu spüren, dass alle froh waren, sich wieder ‚live‘ zu sehen.

Das heißt, es gibt Schüler, die in diesem System abdriften?

Da gibt es ein Für und Wider, wie in jedem System. Wir haben Schüler, die profitieren unheimlich davon, dass sie nicht in der Klasse sitzen und die Aufgaben in ihrem Tempo machen können. Es gibt aber auch Schüler, die es genießen, dass sie nicht in der Schule sitzen müssen und die dann auch ein Stück weit, wie sie es nennen, abdriften. Es ist natürlich etwas anderes, einen Schüler im Klassenzimmer zu motivieren und über Gestik und Mimik zu kommunizieren, als wenn ich ihn, mit vielen seiner Mitschüler, nur im Video vor mir habe.

Wie sehr fehlt denn der soziale Kontakt der Kinder untereinander?

Das bekommen wir eher über Gespräche mit Eltern mit. Aber auch über die Schulsozialarbeit, ich bin heilfroh, dass wir die haben und sie nicht in Kurzarbeit geschickt wurde. Es ist aber klar, dass der Austausch unter den Kindern fehlt. Und es ist auch klar, dass es in Familien zu Spannungen führen kann, wenn Homeschooling und Homeoffice gleichzeitig zu Hause stattfinden. Und das mal ganz abgesehen von den technischen Möglichkeiten. Deshalb sind Homeschooling und Homeoffice eine gute Möglichkeit, damit wir keine Begegnungen haben, aber das schafft andere Probleme.

Da können Sie als Schulleiter dann wohl kaum helfen?

Ja, ich kann nicht für eine gute Breitbandverkabelung sorgen. Wir bekommen jetzt zwar neue Endgeräte. Die helfen aber nicht, wenn die Internetgeschwindigkeit nicht ausreicht.

Hat Sie überrascht, wie katastrophal Deutschland digital aufgestellt ist?

Dass es so katastrophal ist, hätte ich nicht gedacht. Dass wir Defizite haben, wie die genannte Breitbandverkabelung, war aber schon länger klar.

Was muss passieren, damit die Defizite der Schüler aufgearbeitet werden?

Ich habe viele Vorstellungen, die entscheidende Frage ist aber: Was macht die Politik? Da gibt es wohl Überlegungen über Zusatzunterricht und Fördermaßnahmen, aber da weiß ich noch nichts Genaues. Wir vor Ort sind da in unserem Handlungsspielraum sehr eingeschränkt. Ich wünsche mir schnelle und unbürokratische Lösungen zum Wohle der Schüler. Ich fände es gut, wenn Schüler ab sofort gefördert würden. Beispielsweise wenn ein Schüler in die 5. Klasse kommt, er dann aber noch eine Zeit lang, an einem oder zwei Nachmittagen, Stoff aus der vierten Klasse aufarbeitet. Wenn man die Schüler einfach versetzt, wäre das nichts anderes, als einfach die Augen zu zumachen. Und das kann es aus meiner Sicht nicht sein. Es ist keine Option, so zu tun, als hätten die Schüler alles gelernt und sie einfach in die nächste Klassenstufe zu schicken. Diese Erfahrung haben wir im Sommer gemacht. Im Herbst kamen dann Anfragen von Eltern, ob ihr Kind doch freiwillig wiederholen könnte.

Gehen Ihnen die Entscheidungen der Politik da schnell genug? Bisher tut sich gefühlt wenig.

Ich würde mir wünschen, dass schnellere Entscheidungen kommen. Wir hatten die Situation ja vor einem Jahr schon. Die gleiche Diskussion gab es damals auch nach den Osterferien. Die Schulen sind seit Dezember mehr oder weniger zu. Da wäre es schön, wenn es Beschlüsse gäbe, wie es weitergeht. Kürzen wir Ferien, gibt es Investitionen, um Fördermittel zu finanzieren? Das sind offene Fragen. Da fehlt mir die Klarheit und damit die Perspektive.

Sind denn die Schnelltests, die seit letzter Woche Pflicht sind, aus Ihrer Sicht ein gutes Instrument, um in den normalen Schulalltag zurückzukehren?

Ja, das ist ein gutes Mittel. Testen und Impfen sind derzeit die einzigen Wege, die uns aus dem Lockdown rausführen können. Wir haben intern und mit den Schülern auch besprochen, wie wir reagieren, wenn einer der Schnelltests positiv ist. Bislang waren sie aber alle negativ.

Was passiert denn, wenn ein Test positiv ist?

Wie bereits erwähnt, ist es wichtig, dass mit den Klassen vor dem Testen besprochen wird, was der positive Schnelltest bedeutet und wie wir damit umgehen. Wenn wir einen positiven Test haben, dann informieren wir die Eltern, die ihr Kind abholen. Die anderen Schüler achten auf sich und darauf, ob sie Symptome haben.

Nach der neuen Bundes-Notbremse schließen Schulen ab einem Inzidenzwert von 165, wie zu Wochenbeginn landkreisweit geschehen. Ist das eine gute Entscheidung?

Über politische Zahlen und Entscheidungen will ich nicht urteilen. Mir wäre nur wichtig, dass es eine klare Struktur gibt. Bis vor Kurzem galt die Zahl 200 als Grenze für Schulschließungen. Vor Weihnachten haben wir bei 50 zugemacht. Da wäre mir eine konsequente Zahl und eine Planungssicherheit wichtiger. Beurteilen, ob die Entscheidungen richtig oder gut sind, kann ich nicht. Wir müssen damit einfach arbeiten.

Vor einiger Zeit haben sie prophezeit, dass uns Corona noch um die Ohren fliegen wird. Lässt sich das noch verhindern?

Es lässt sich jedes schlimme Szenario verhindern. Ich bin aber der Ansicht, dass viele Dinge Langzeitwirkungen haben werden. Die angespannte Situation könnte dazu führen, dass es in Familien, in denen es jetzt Spannungen gab, zu Trennungen kommt. Weil man die Situation nicht ganz aufarbeiten konnte. Es könnte aber auch Probleme für die Kultur, die Feuerwehr oder Vereine geben, wenn ihnen der Nachwuchs fehlt. Da geht es ja nicht nur darum, dass Menschen lernen, wie man einen Brand löscht oder wie man ein Musikinstrument spielt. Es geht auch um Geselligkeit. Das könnte uns langfristig um die Ohren fliegen, dass Menschen nicht mehr bereit sind, sich ehrenamtlich zu engagieren. Es ging jetzt ja auch ohne. Wenn der Feuerwehr oder dem Sport- oder Musikverein zwei Jahrgänge fehlen, dann merkt man das nicht sofort, aber eben in fünf oder zehn Jahren. Die sozialen Kontakte sind eben nicht nur für Schüler, sondern für alle wichtig.