Im Moment, da lebt Jürgen Engler mittendrin im „Davor“. Das „Danach“, nach dem er sich so sehr sehnt, liegt noch in weiter Ferne. Der 55-jährige Villinger hat Multiple Sklerose (MS). „Danach“, das bedeutet für ihn ein Leben, in dem er nach einer Stammzellentherapie in Mexiko endlich keine Angst mehr vor einem ständigen Dasein im Rollstuhl haben muss. Bis dahin braucht es jedoch Zeit, Geduld, Hoffnung und vor allem: einen großen Batzen Geld.

2004: Das Jahr, das alles verändert

Aber der Reihe nach. Bis er an dem Punkt steht, an dem er für seine Gesundheit plötzlich 57.000 Euro braucht, hat Jürgen Engler eine lange Leidensgeschichte hinter sich. 2004 bekommt er zum ersten Mal eine Entzündung am Sehnerv – erstes Anzeichen der MS, wie er heute weiß. Damals jedoch soll es noch über fünf Jahre dauern, bis er die Diagnose hat. Bis 2019 lebt der 55-Jährige dank Tabletten, Spritzen und Infusionen trotzdem „ganz gut“, wie er selbst sagt.

Alles ganz gut – bis zum ersten heftigen Schub

Ein heftiger Schub, nach dem der Villinger sein komplettes linkes Bein nicht mehr spürt, setzt dieser Zeit jedoch ein Ende. Jürgen Engler, der als Verwaltungsangestellter bei der Stadtkasse in Donaueschingen arbeitet, geht es nun schlechter und schlechter. Er braucht zunächst einen Gehstock, später einen Rollator.

Der dritte Stock wird fast unerreichbar

Irgendwann ist für Strecken, die länger sind als wenige hundert Meter, ein Rollstuhl nötig. Seine Wohnung im dritten Stock ohne Aufzug erreicht er nur noch mit Mühe, Ehemann Daniel Engler muss nach und nach im Haushalt sämtliche Aufgaben erledigen.

Auch psychisch geht es ihm nun immer schlechter. „Ohne Antidepressiva schaffe ich es nicht mehr“, erzählt er. Das Schlimmste ist, dass er weiß: „Ich habe hier in Deutschland nicht mehr allzu viele Chancen. Die Krankheit lässt sich höchstens noch ein wenig aufhalten“, so Jürgen Engler. Anfang des Jahres jedoch kommt der kleine Hoffnungsschimmer: Bei einer Reha am Bodensee erzählt ihm ein Pfleger von der Stammzellentherapie in Mexiko.

Neustart für das kranke Immunsystem

Die ist wahrlich kein Spaziergang. Körpereigene Stammzellen werden abgesaugt. Mit Hilfe einer hochdosierten Chemotherapie wird das kranke Immunsystem dann auf Null gebracht, nach Abschluss werden die Stammzellen wieder transplantiert. Jetzt kann der Körper ein neues, gesundes Immunsystem bilden. Der Haken: Die Krankenkasse bezahlt die Behandlung im Ausland nicht.

Bei Strecken, die länger als ein paar Meter sind, ist Jürgen Engler schon heute auf den Rollstuhl angewiesen. Er hofft jedoch, mit Hilfe ...
Bei Strecken, die länger als ein paar Meter sind, ist Jürgen Engler schon heute auf den Rollstuhl angewiesen. Er hofft jedoch, mit Hilfe der Therapie in Mexico kleinere Spaziergänge noch mit dem Rollator schaffen zu können. | Bild: Daniel Engler

Einer, der die Therapie in Mexiko schon hinter sich hat, ist André Decher. 2020 war er selbst dort und hat danach den gemeinnützigen Verein „Gemeinsam gegen PPMS“ gegründet. PPMS steht für primäre progrediente Multiple Sklerose.

Geldsorgen – und viele andere Ängste

Der Verein will Patienten wie Jürgen Engler auf dem nicht ganz einfachen Weg zur Therapie unterstützen. „Ich fand es damals sehr schlimm, dass mir niemand etwas Näheres sagen konnte“, erinnert sich Decher. Zu den Geldsorgen kamen weitere Ängste – vor Mexiko, dem medizinischen Standard dort, dem Umfeld. Solche Befürchtungen wollen Decher und seine Kollegen den MS-Kranken nehmen.

So wie früher wird es auch nach der Therapie nicht mehr

Allerdings muss er ihnen auch eine Illusion nehmen: „Nach der Behandlung ist die Verschlechterung gestoppt, aber besser wird es nicht mehr“, stellt André Decher klar. Er selbst sitzt nach wie vor im Rollstuhl, wie auch schon lange vor der Behandlung. Dennoch ist er froh, diese absolviert zu haben. „Nach der Schulmedizin hierzulande gibt es nur einen Weg – nämlich den, dass es immer schlechter wird“, so Decher.

Dass alles wenigstens so bleibt, wie es ist: Für Jürgen Engler ist schon diese Vorstellung wunderbar. Derzeit kann er mit dem Rollator noch eine Strecke von zwei-, dreihundert Metern selbst gehen, „das ist die Welt für mich“, sagt er. Sein Ziel ist es, bis zur Rente arbeiten zu können, der Villinger liebt seinen Job. Und er weiß: „Wenn ich jetzt nichts mache, bin ich bald komplett im Rollstuhl.“

Professor Christoph Heesen ist Ärztlicher Leiter der Hamburger MS-Ambulanz und -Tagesklinik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf ...
Professor Christoph Heesen ist Ärztlicher Leiter der Hamburger MS-Ambulanz und -Tagesklinik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und hat schon viel Erfahrung mit der Stammzellentherapie. | Bild: Heike Günther

Auch in Deutschland gibt es die Stammzellentherapie für MS-Patienten an einigen wenigen Krankenhäusern, unter anderem am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. „Die Therapie eröffnet besonders jungen Menschen große Chancen. Wir hatten nur wenige, beherrschbare Komplikationen“, sagt Professor Christoph Heesen, Ärztlicher Leiter der Hamburger MS-Ambulanz.

Jede Therapie ist eine Einzelfallentscheidung

Er setzt die Methode schon seit 15 Jahren ein. „Bei 19 von 20 Patienten, die in Hamburg transplantiert wurden, hat die Behandlung die Erkrankung stabilisiert.“ Ein Alter von über 50 und eine Gehstrecke von unter 100 Metern seien jedoch Risikofaktoren für schlechteres Ansprechen. Auch in Deutschland gehört die Therapie übrigens nicht zur Regelversorgung der gesetzlichen Krankenkassen. Ob bezahlt wird oder nicht, ist jedes Mal eine Einzelfallentscheidung.

Das könnte Sie auch interessieren

Die Voraussetzungen für die Behandlung in Deutschland sind ohnehin hoch – zu hoch für Jürgen Engler. Zwar kann die Methode auch hierzulande für Krankheitsverläufe wie seinen eingesetzt werden. Das größte Problem des 55-Jährigen: Die Patienten dürfen in der Regel höchstens 40 Jahre alt sein.

Alle Hoffnungen ruhen auf Mexiko

Jürgen Engler weiß, dass jetzt die Zeit drängt. Er setzte daher alle Hoffnungen auf Mexiko. „Ich habe schon großen Bammel davor, aber das ist meine einzige Chance“, sagt er.

Das könnte Sie auch interessieren