Martin Dürrhammer sagt, er habe in seinem Leben sehr oft Glück gehabt. Etwa an jenem Abend, als er wenige Stunden vor dem Abmarsch in Richtung Stalingrad aus seiner Kompanie genommen wird. Schon früh hat der Villinger seinen Vater verloren und gilt damit als Ernährer von Mutter und Schwester. Deshalb wird er auch nicht auf jenen schicksalhaften Feldzug geschickt, den die meisten seiner Kameraden, darunter auch Schulfreunde, nicht überleben werden.

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Bereits den Winter 1941/42 hat der junge Soldat damals in Russland verbracht und dafür die spöttisch als „Gefrierfleischorden“ bezeichnete Medaille der Winterschlacht erhalten. Nun wird er an die nicht kämpfende Front nach Norwegen versetzt, um normalen Kasernendienst zu verrichten. „Darüber habe ich mich erst noch aufgeregt“, sagt er rückblickend. „So blöd war man damals.“ Glück hat er auch an jenem Tag, als er in einem stillgelegten Schwimmbad in ein leeres Becken stürzt und schwere Prellungen davonträgt. Das Bad ist zu einer Entlausungsanstalt umfunktioniert worden, die Sicht in der von Wasserdampf vernebelten Halle schlecht: Der frisch entlauste Soldat fällt mehrere Meter tief. „Wäre das nicht passiert, wäre ich einer von 80 Männern mit Führerschein Klasse 2 gewesen, die in Warschau Sanitätswagen abholen sollten. Von ihnen kehrte niemand lebend zurück.“

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      Das Soldbuch existiert noch

      Heute ist Martin Dürrhammer 97 Jahre alt und gehört zu letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs. Vieles, was in seinen fast einhundert Lebensjahren passiert ist, steht heute in den Geschichtsbüchern. Die Mondlandung, das Kennedy-Attentat, der Kalte Krieg, das „Wunder von Bern“ oder die Ölkrise Anfang der 70er Jahre. Von den Kameraden seines Jahrgangs ist der letzte vor zwei Jahren verstorben. Mit Mund-Nasen-Schutz hat der Villinger zum Interview Platz genommen, in seiner Jackentasche das Soldbuch, das seine Zeit als Soldat dokumentiert.

      Soldbuch von Martin Dürrhammer, Jahrgang 1923
      Soldbuch von Martin Dürrhammer, Jahrgang 1923 | Bild: Göbel, Nathalie

      Im April 1941 wird Martin Dürrhammer zum Kriegsdienst eingezogen, im Dezember 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft im nordfranzösischen Örtchen Attichy entlassen. Hier befindet sich das Lager namens CCPWE#15, in dem zeitweise bis zu 50 000 Menschen untergebracht sind. „Eingeteilt war es in verschiedene Camps, darunter auch eigene Abteilungen für jugendliche Kriegsgefangene“, schildert er.

      Jener 8. Mai 1945, an dem die bedingungslose Kapitulation Hitler-Deutschlands besiegelt wird, ist für den jungen Kriegsgefangenen aus dem Schwarzwald ein Tag wie jeder andere auch. „Vom Kriegsende selbst habe ich nichts gemerkt. Wir hatten ja keine Zeitung, kein Radio“, sagt er. Durch einen knapp formulierten Aushang erfahren die Gefangenen vom Tag der Befreiung. Von Jubel keine Spur. Thema Nummer eins im Lager ist tagein, tagaus das knapp bemessene Essen. „Es war schon schlimm“, sagt Martin Dürrhammer.

      Im Soldbuch ist aufgelistet, wann Martin Dürrhammer wo im Einsatz war. 1941 wurde der damals 18-Jährige eingezogen. Im Dezember 1946 ...
      Im Soldbuch ist aufgelistet, wann Martin Dürrhammer wo im Einsatz war. 1941 wurde der damals 18-Jährige eingezogen. Im Dezember 1946 kehrte er aus der Gefangenschaft zurück. | Bild: Göbel, Nathalie

      In Gefangenschaft erfährt er von den Grausamkeiten und Massenmorden der Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern. Den Gefangenen wird ein Film gezeigt, der das Leid dokumentiert, die ausgemergelten Körper der Lebenden und Berge von Toten. „Ein paar Aufseher haben uns danach mit dem Gewehrkolben verschlagen.“

      Ende März 1945 war er in Gefangenschaft geraten, nachdem er durch Granatsplitter verletzt worden war. „Ich war nicht schwer verwundet und habe mich relativ schnell zum Arbeitsdienst gemeldet“, sagt er. Ihm kommt der Führerschein der Klasse 2 zugute, mit dem auch Lastwagen gefahren werden dürfen. „Im Arbeitslager war ich viel im Fahreinsatz, das war eine begehrte Tätigkeit.“ Der Zweite Weltkrieg endet für Martin Dürrhammer mehr als sieben Jahre, nachdem er mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen begann. Mit dem Zug kommt Martin Dürrhammer an einem Dezemberabend 1946 in seiner Heimatstadt an. Der erste Villinger, dem er begegnet, ist ein Friseur, der nach einer Hamsterfahrt ebenfalls auf dem Weg nach Hause ist. „Es war nicht viel kaputt“, erinnert er sich an den ersten Eindruck. Die Zähringerstadt hatte sich kampflos ergeben. Als am Abend des 20. April 1945 die französischen Panzer nach Villingen rollen, hisst der damalige stellvertretende Bürgermeister Hermann Riedel um kurz nach 20 Uhr eine weiße Fahne am Münster.

      Sein Soldbuch besitzt Martin Dürrhammer noch immer. Ende März hat der Villinger seinen 97. Geburtstag gefeiert.
      Sein Soldbuch besitzt Martin Dürrhammer noch immer. Ende März hat der Villinger seinen 97. Geburtstag gefeiert. | Bild: Göbel, Nathalie

      Zurück in der Heimat bei Mutter und Schwester macht sich der damals 23 Jahre alte Martin Dürrhammer sofort auf die Suche nach Arbeit. Es gilt, schnell etwas zu finden. „Sonst gab es keine Lebensmittelmarken.“ Nach nur acht Tagen hat er etwas gefunden, wieder erweist sich der Führerschein als Glücksfall. Das Lazarett im heutigen Gymnasium am Romäusring sucht einen Fahrer für den Chefarzt. Martin Dürrhammer wird sofort genommen, das Leben nach dem Krieg beginnt langsam, sich zu normalisieren.

      „Wenn man heute zurückdenkt, wundert man sich, wie man das damals geschafft hat“, sagt er. Von Grund auf neu anfangen habe man müssen, angefangen bei den alltäglichsten Dingen wie Kleidung. „Als ich zurückkam, besaß ich nur meine Gefangenenkleidung und einen Parka.“ Stets bei sich hatte Martin Dürrhammer einen Rosenkranz, den er zur Erstkommunion bekommen hatte – als Glücksbringer. Und Glück, sagt er, war in diesen Jahren mehr als einmal an seiner Seite.