Fußball: Wer Ertan Tasdemirci verstehen möchte, muss die Geschichte von seinem Vater Veli und dessen Schwester kennen, die als Gastarbeiterin nach Deutschland kam. Zwischen 1961 und 1973 verließen rund 900.000 Menschen die Türkei, weil die Bundesrepublik Arbeitskräfte suchte. Ohne diese wäre der Wirtschaftsboom nach den Kriegsjahren unmöglich gewesen.

Ertans Tante fand Arbeit bei der Schuhfirma Rieker in Tuttlingen. Ein besseres Leben, eines mit Perspektiven, es gab ausreichend Gründe, die Heimat zu verlassen. Verantwortung zu übernehmen, für sich, für die Familie – vor allem für ihren Bruder Veli, der seiner Schwester nach Deutschland folgte, kaum dass er 16 Jahre alt war, obwohl er die Sprache nicht beherrschte und dieses Almanya so ganz anders als die Heimat des Teenagers war.

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Die Julihitze ist im Hinterzimmer der Stadiongaststätte des VfR Stockach kaum zu spüren, als Ertan Tasdemirci seine Familiengeschichte erzählt. Ertan ist der dienstälteste Trainer in der Landesliga, vor allem aber ein Familienmensch mit einer klaren Haltung zu den Dingen im Leben, die wirklich wichtig sind: „Es sind die Erinnerungen, um die es geht. Denn alles vergeht. Aber Erinnerungen bleiben.“

Papa Veli war ein Zehner

Und so geht es im Gespräch mit dem SÜDKURIER natürlich um Fußball, um die Chancen des VfR Stockach in der anstehenden Spielzeit. Das Interview ist aber auch eine Zeitreise.

Papa Veli lernt 1985 bei einem Heimatbesuch Altun kennen, bald wird geheiratet, in Tuttlingen baut sich die Familie eine Zukunft auf, einige Jahre später wird erst Ertan geboren, dann seine Schwester Ebru. „Ich habe meinen Vater ja selbst nie spielen gesehen, aber in Tuttlingen schwärmen die Alten heute noch davon, was für ein guter Spieler er gewesen ist“, sagt Ertan. Ein Zehner, technisch versiert, der in den damals üblichen Turnieren für türkischstämmige Kicker auftrumpfte.

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Als der Türkische SV Tuttlingen gegründet wurde, übernahm Veli den Trainerposten, Sohn Ertan, gerade mal sechs Jahre alt, war bei jedem Spiel dabei, saß mit in der Kabine, wenn der Papa die Mannschaft einstellte oder Motivationsreden hielt. Er hörte zu, später führte er Buch, schrieb sich Übungen auf, die ihm besonders gut gefielen. „Ich wusste schon früh, dass ich mal Trainer werden würde“, erzählt Ertan. „Ich habe meinem Vater viel zu verdanken, er hat mich geprägt, als Mensch und als Trainer.“

Ertan spielt zunächst beim TV Jahn Tuttlingen, wechselt als B-Jugendlicher zum FV 08 Rottweil, weil dessen Team in der Oberliga spielt und einen talentierten Verteidiger sucht.

Dann fusioniert sein Heimatclub mit dem FC 08 Tuttlingen. Ertan zieht es zurück an seinen Wohnort, zum neuentstandenen SC 04 Tuttlingen. Zwar wird seine Laufbahn von zwei Abstechern zum FC Singen und BSV Schwenningen unterbrochen, aber in der Stadt mit den über 400 Medizintechnik-Unternehmen wird er Leistungsträger und schließlich auch Kapitän.

Sieben Jahre ohne Kreuzband

Viele Erinnerungen bleiben aus dieser Zeit. Der Aufstieg mit den Hegauern unter Trainer Bobo Maglov. Vor allem aber an jenen Tag, an dem ihm das Kreuzband riss. 23 Jahre war er damals alt, eigentlich ein Fall für das Klientel des gelernten Chirurgiemechanikers, doch Ertan spielt auch ohne OP weiter. „Das klappte sieben Jahre lang auch ganz gut, aber bei einem Spiel sprang das Knie dann komplett raus und wieder rein.“ Ein Jahr Pause und einige Narben am Bein waren die Folge.

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Und eine neue Karriere. Als sich der Club vom damaligen Trainer Walter Schneck trennt, überredet der Vorstand den gerade verletzten Kapitän, sich doch mal als Coach zu versuchen. Dem gelingt mit einer jungen Mannschaft in der Bezirksliga eine Siegesserie. Sein Comeback als Spieler? Fällt aus! Weil die Jungs ihn überreden, weiterzumachen. Und weil er kein Spielertrainer sein will, „weil es schwierig ist, sich auf sein eigenes Spiel zu konzentrieren und gleichzeitig die Partie wie ein Trainer am Seitenrand zu analysieren. Einige können das, für mich war das nichts.“

„Man merkt schnell, wenn es passt“

Tasdemirci hält kurz inne bei der Zeitreise. Überlegt, sagt dann: „Ich glaube an Gott und das Schicksal. Das war mein Weg, das war die richtige Zeit.“ Die Zusammenarbeit endet ein Jahr später, weil es unterschiedliche Meinungen um die Ausrichtung des Clubs geht, um Neuzugänge, deren Zusagen er eingeholt habe, denen er aber kurzfristig wieder hätte absagen sollen.

Nicht jede Erinnerung ist schön. Aber das Leben besteht auch nicht nur aus Fußball. „Ich bin jeden Tag dankbar, dass wir hier leben dürfen. Ich darf meine Kinder in einem sicheren Land aufwachsen sehen, habe einen sicheren Job, meine Familie steht zu mir. Wir können uns leisten, was wir zum Leben brauchen. Ich bin ein sehr glücklicher Mann.“ Sohn Ege ist inzwischen zehn Jahre alt, kickt natürlich in der E-Jugend in Tuttlingen und ist bei den Stockacher Heimspielen zusammen mit seiner sieben Jahre alten Schwester Ela und Mama Serpil stets dabei.

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Wie es zum Engagement im Osterholz kam? „Man merkt schnell, wenn es passt“, sagt Ertan. Der VfR war damals in Abstiegsnot, die Vorgabe des Clubs, die Mannschaft im oberen Drittel der Landesliga zu etablieren, war die Herausforderung, die der heute 38-Jährige suchte. Es war allerdings mehr als nur ein Trainerwechsel, auf den sich die Stockacher einließen. Versuchte der Verein für Rasensport in den Jahren zuvor mit vielen langen Bällen Top-Stürmer Marius Henkel in Position zu bringen, ließ Tasdemirci seine Spieler nun einen anderen Fußball spielen.

Stilwechsel beim VfR Stockach

„Es war ein schwieriger Prozess, den Jungs klarzumachen, ab sofort spielerisch aufzubauen, zumal wir einige Tore nach Fehlern im Spielaufbau einfingen. Aber wer laufen lernen will, muss auch hinfallen“, erinnert er sich. Der Stilwechsel gelang. Aber nicht nur die Spielweise, vieles hat sich in den vergangenen Jahren am Osterholz verändert. „Als ich angefangen habe, machten auf dem Platz Familien mit ihren Hunden Picknick. Heute haben wir eine tolle Anlage, einen Kunstrasenplatz dazu. Das ist schon toll.“ Tatsächlich kann sich der VfR Stockach in den oberen Tabellenregionen etablieren, wenngleich der ganz große Wurf nicht gelingt. „Uns fehlte einfach die Breite im Kader. Oft hatte ich nur elf Mann im Training“, weiß Tasdemirci um die Gründe, warum Rang vier in der vergangenen Saison zwar sehr gut, aber eben auch das Maximum war.

„Wir wollen jedes Spiel gewinnen“

Genug der Erinnerungen. Was wird die Zukunft bringen? „Wir wollen angreifen“, sagt der Trainer vor seiner fünften Spielzeit in Stockach. „Wir wollen jedes Spiel gewinnen.“ Ardian Neziri kam vom ESV Südstern Singen, Redon Ismajli vom Türkischen SV Singen. Die beiden bringen Verbandsliga-Erfahrung mit. Mohamed Gomina und Kevin Switalla vom FV Möhringen sind gestandene Landesliga-Spieler. Gleiches gilt für Luca und Loris Barroi vom württembergischen SV Zimmern. Und Alessandro Fiore Tapia ist nach einer schweren Verletzung endlich wieder fit und will an frühere Trefferquoten anschließen, dazu der nimmermüde Marius Henkel, der ohnehin trifft und trifft und trifft. Die Mischung könnte passen, wird sich aber gleich zum Saisonauftakt gegen den SC Konstanz-Wollmatingen und den FC Pfaffenweiler beweisen müssen.

Die Erinnerungen, auf die Tasdemirci in einem Jahr zurückblicken wird, könnten also ganz besondere sein – aber auch die letzten als Trainer des VfR Stockach. „Die Aufgabe fällt mir zunehmend schwer, weil meine Kinder so oft auf den Papa verzichten müssen. Wenn ich nach dieser Saison aufhören werde, dann wirklich nur, weil ich mehr Zeit mit meiner Familie verbringen möchte. Weil die Kids den Papa vermissen. Noch sind sie klein, irgendwann wird das vorbei sein.“

Es gilt eben auch Erinnerungen zu sammeln mit Serpil, Ege und Ela.