Als der Bus auf dem runden Innenhof des Campus Kreuzlingen anhält, dauert es eine Weile, bis sich etwas tut. Die, die hier aussteigen, sind übernächtigt und vollkommen fremd in Kreuzlingen. Die meisten von ihnen können nicht ohne fremde Hilfe dem Bus verlassen, sie haben von Geburt an eine Behinderung und sind auf den Rollstuhl angewiesen. An einer Tür steht ein blasser Junge nachdenklich schweigend und beobachtend. Als wäre er aus einer anderen Welt angereist.

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Dass die zehnköpfige Gruppe „Offene Herzen“ nun nicht mehr in Lwiw ihre Treffen abhält, sondern vorerst zu einer Schicksalsfamilie in Kreuzlingen wird, liegt an den Rotary-Clubs aus Konstanz und Kreuzlingen. Wie Hanspeter Ryser, Sprecher des Rotary Clubs Kreuzlingen, berichtet, besteht seit 18 Jahren enger Kontakt zu der Selbsthilfegruppe aus der Ukraine. Finanzielle Unterstützung erfährt die Gruppe für Ausbildungsprojekte verschiedener Mitglieder und durch Gelder für gemeinsame Freizeiten. Immer wieder besuchten Rotarier die Gruppe in Lwiw.

„Oxana hat seither oft von Drohnen und großen schwarzen Autos geträumt“

Nun ist in Lwiw Krieg und Oxana Himko liegt auf einem der Betten, die in der Schulturnhalle rasch hergerichtet wurden. „Ich hatte keine Angst, ich bin ja schon öfter mit der Gruppe gereist“, sagt sie und ein stolzes Lächeln umspielt ihre Lippen. Der Krieg habe ihr auch nur bedingt Angst gemacht. Schließlich habe der bereits 2014 angefangen, sie seien auf alles gefasst gewesen.

Oxana Himko gleich zwei Mal – Mutter und Tochter bei ihren provisorischen Betten kurz nach der Ankunft.
Oxana Himko gleich zwei Mal – Mutter und Tochter bei ihren provisorischen Betten kurz nach der Ankunft. | Bild: Wagner, Claudia

Ihre Mutter, die ebenfalls Oxana heißt, ist bereit, einzuräumen, dass die Wochen seit Kriegsbeginn eine schwere Belastung gewesen seien. „Wir hatten Angst und auch keine Möglichkeit uns zu schützen – wir haben keinen Keller.“ Die Versorgung sei okay gewesen, Lebensmittel waren noch zu haben und Oxana Himko hat eingekocht, um Vorräte zu haben.

Ihre Tochter erinnert sich nun auch. „Die Sirenen, die furchtbaren Geräusche“, die junge Frau beginnt heftig zu schluchzen und spricht von einer Sünde. Sie beruhigt sich nur langsam. Ihre Mutter erläutert die Hintergründe: Schon vor einigen Jahren habe ein Pfarrer mit ihrer Tochter gesprochen und ihr gesagt, dass Krieg kommen werde. „Oxana hat seither oft von Drohnen und großen schwarzen Autos geträumt.“

„Wir haben die Sirenen zu spät gehört und konnten nicht mehr in den Keller“

Ein paar Meter weiter haben sich an einem Tisch Oxana Schyposch, Roman (12) und Mark (9) eingefunden. Die beiden Jungen sind Kinder einer ehrenamtlichen Betreuerin, die den Mitgliedern der Gruppe hilft. Roman ist der Junge, der schweigend an der Bustür stand. Auch für sie ist Kreuzlingen momentan sicherer als Lwiw.

Ein kleiner blasser Junge beobachtet den Prozess des Aussteigens der Gruppe „Offene Herzen“: das ist Mark.
Ein kleiner blasser Junge beobachtet den Prozess des Aussteigens der Gruppe „Offene Herzen“: das ist Mark. | Bild: Wagner, Claudia

„Einmal haben wir die Sirenen zu spät gehört und konnten nicht mehr in den Keller. Wir haben uns dann in der Wohnung beim Lift versteckt, weil es dort sicherer war“, erinnert sich Mark. Zuhause in Lwiw haben sie ihren Vater und den Hund Bima zurückgelassen. Papa würde sie sonst zu sehr vermissen, deshalb sei es besser, dass Bima bei ihm sei.

Oxana Schyposch ist sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war, sich von den Rotariern in die Schweiz bringen zu lassen. „Ich lebe allein, ohne Familie“, sagt sie. „Es war sehr schwierig für mich, bei Bombenalarm im Rollstuhl in den Schutzkeller zu kommen.“ Auch weiter entfernt von Lwiw habe sie keine Verwandten auf dem Land, deshalb sei es die beste Option gewesen, das Land zu verlassen.

Kurz nach der Ankunft in der umfunktionierten Turnhalle. von links Maria Martyniuk, Mark (9), Roman (12), Oxana Schyposch und Julia Bojko.
Kurz nach der Ankunft in der umfunktionierten Turnhalle. von links Maria Martyniuk, Mark (9), Roman (12), Oxana Schyposch und Julia Bojko. | Bild: Wagner, Claudia

„Im Rollstuhl habe ich es schwer, in den Schutzkeller zu kommen“

Das sieht auch Julia Bojko für sich selbst so. Die Entscheidung, ihre Heimatstadt zu verlassen, sei ihr trotzdem enorm schwer gefallen. „Zuerst dachten wir, dass Lwiw verschont bleibt, weil es in der Nähe der polnischen Grenze liegt“, erzählt sie. Als eine Militärbasis etwa 50 Kilometer von Lwiw angegriffen wurde, war klar, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllte.

Die Familie sei nun auseinandergerissen, ihre Mutter habe zwischen ihr und ihrer Schwester wählen müssen, berichtet die 36-Jährige von einer schwierigen Wahl, vor die ihre Mutter gestellt wurde. Nun kümmert sie sich in Lwiw um Bojkos Schwester und deren Kinder, während Julia mit der Selbsthilfegruppe in die Schweiz evakuiert wurde. „Im Rollstuhl habe ich es schwer, in den Schutzkeller zu kommen. Den Rotary Club kenne ich hingegen schon und wir alle sind Freunde hier.“ Es gebe Freiwillige, die sich um sie kümmern können.

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Inzwischen ist auch die dauerhafte Unterbringung der Gruppe geklärt: Alle zehn Personen ziehen in die Einrichtung Mansio in Münsterlingen, die ihnen ein behindertengerechtes Wohnen erlaubt, wie Hanspeter Ryser berichtet. Wie lange sie in der Schweiz bleiben werden, wissen sie nicht.

Was sie an diesem Vormittag alle eint: Die Erwachsenen hoffen auf und glauben an einen Sieg der ukrainischen Armee. Julia Bojko äußert ihre Sorge, dass ein Atomkraftwerk getroffen werden könnte. „Ich weiß, dass meine Schwester und meine Nichten in Lemberg sind und mache mir Sorgen“, sagt Julia Bojko. „Irgendwer muss Putin stoppen.“

Die Schulturnhalle ist nur eine vorübergehende Lösung. In Münsterlingen werden die Flüchtlinge behindertengerecht Wohnen können.
Die Schulturnhalle ist nur eine vorübergehende Lösung. In Münsterlingen werden die Flüchtlinge behindertengerecht Wohnen können. | Bild: Wagner, Claudia

Der Appell wird in den Weiten der Schulturnhalle verhallen, dafür aber wird er im Moment tausendfach formuliert, dessen kann sich die Ukrainerin sicher sein. Und dann, bevor sich die kleine erste Zusammenkunft in der Fremde wieder auflöst, formuliert Oxana Schyposch noch einen dringlichen Wunsch. „Ich möchte so gern an Ostern wieder zuhause sein“, sagt sie. Ob dieser Plan eine realistische Chance auf Erfüllung hat? Man möchte es Oxana Schyposch so gerne von Herzen wünschen.