Im Normalfall, da tröpfelt die illegale Migration zwischen der Schweiz und Deutschland eher. 167 Personen kamen etwa im April dieses Jahres über die Grenze – also gerade mal fünf am Tag. Danach schwillt der Strom massiv an. Das zeigen Bundespolizei-Zahlen, die dem SÜDKURIER exklusiv vorliegen: 345 Menschen kamen im Juli, 481 im August, 864 im September. Ein Vervierfachung im Vergleich zum Frühjahr. Und dann kam der Oktober: 1739 Menschen waren es dort laut ersten Auswertungen, nochmal doppelt so viele wie im Vormonat.
Statt fünf reisen also derzeit mehr als 50 Personen am Tag illegal über die Schweiz ein. Menschen, die in Baden-Württemberg erfasst, versorgt und untergebracht werden müssen. Die Bundespolizei-Zahlen sind Sprengstoff. Denn sie liefern den Vorwürfen neue Nahrung, wonach die Schweiz die an ihren eigenen Grenzen ankommenden Migranten einfach nach Deutschland durchwinkt.
Der Vorwurf an die Schweiz
Laut Medienberichten sollen die Schweizer die in Buchs nach der österreichischen Grenze ankommenden Migranten direkt in eigens reservierte Waggons der Schweizer Bundesbahnen (SBB) leiten und nach Basel an die deutsche Grenze fahren.
Den Vorwürfen nach findet dabei keine Erfassung der Flüchtlinge statt, was nach Meinung vieler Experten einen Bruch internationaler Vereinbarungen, der Dublin-Regeln, darstellt. Nach diesen Regeln müssen Flüchtlinge, die keinen Asylantrag stellen, zurückgewiesen werden. Schweizer Behörden dementieren dieses Vorgehen. Anleitung durch SBB-Mitarbeiter gebe es nur, weil der Flüchtlingsstrom zugenommen habe. Man gehe „aktiv gegen illegale Migration vor“.
Das glauben der Schweiz jedoch längst nicht alle deutschen Politiker. Ann-Veruschka Jurisch, FDP-Bundestagsabgeordnete aus Konstanz und im zuständigen Ausschuss für Inneres, sagt dem SÜDKURIER: „Die Zahlen erhärten, was als Kritik gegen die Schweiz im Raum steht. Menschen die sich illegal in der Schweiz aufhalten und kein Asyl beantragen, sind von den Schweizer Behörden festzusetzen und zurückzuführen.“ Sie fordert: „Die Schweiz muss hier dringend handeln und sich als verlässlicher Partner innerhalb Europas erweisen.“

Auch Thorsten Frei, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, spricht Klartext. Die Schweiz winke die Migranten einfach durch: „Auf längere Sicht droht Deutschland dadurch überfordert zu werden“, erklärt er.
Als letztes Mittel müsse deswegen über Grenzkontrollen nachgedacht werden – und schon jetzt die Schleierfahdnung hinter der Grenze verstärkt werden. „Deutschlands Grenzen dürfen nicht länger löchrig sein wie ein Schweizer Käse“, sagt er und schreibt die Dynamik einer „in großen Teilen der verfehlten Zuwanderungspolitik von SPD, Grünen und FDP“ zu.

Was tut also das Innenministerium gegen die steigende Anzahl Anreisen? Denn die Bundespolizei sagt dem SÜDKURIER ganz klar, dass sie „insbesondere seit Sommer 2022 eine hohe Anzahl unerlaubter Einreisen von visumpflichtigen Drittstaatsangehörigen, vor allem von syrischen Staatsangehörigen“ verzeichne.
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, hatte dem SÜDKURIER schon Ende Oktober auf Anfrage gesagt, der Bundespolizei lägen keine Erkenntnisse einer Mithilfe seitens der Schweizer Behörden zur illegalen Einreise vor.
Gleichwohl würde man die steigenden Zahlen genau beobachten, so die Politikerin aus Waldshut. Zur Einordnung: Die Einreisen liegen in Summe derzeit noch unter den Zahlen aus Rekordjahren. 2016 etwa kamen 7138 Menschen illegal über die Schweiz nach Deutschland, 2017 noch 5127 Personen. Doch mit dem Oktober stehen 2022 bereits fast 4800 illegale Einreise zu Buche – und zwei Monate kommen noch.

Die Bundespolizei setzt nach eigenen Angaben auf die verstärkte Binnengrenzfahndung. Dabei werden etwa Züge, die aus der Schweiz in Konstanz oder Waldshut ankommen, kontrolliert oder Fahrzeuge aus dem Verkehr gezogen – unabhängig von der Nähe zu Grenzübergängen. Denn beide Maßnahmen sind auch im Inland unter bestimmten Umständen möglich. Die sogenannte Schleierfahndungen ist bis zu 30 Kilometer von der Grenze entfernt gestattet – in der Region also etwa auch in Friedrichshafen oder Villingen-Schwenningen.
Doch selbst wenn die Bundespolizei die illegal eingereisten Flüchtlinge aufgreift, kann sie sie nicht einfach des Landes verweisen. Sie werden bei Verdacht auf illegale Einreise in die Dienststelle begleitet. Dort wird die Identität der Person festgestellt.
Wenn die Betroffenen dabei allerdings um Asyl bitten, muss ihr Asylantrag geprüft werden – auch wenn er zuvor anderswo in Europa gestellt wurde. Die Flüchtlinge werden deshalb in die zuständige Landeserstaufnahmestelle gebracht.
Die Rückkehr in Länder wie Griechenland sind rechtlich gar nicht möglich, weil dies gerichtlich untersagt wurde: Die Zustände der Flüchtlingsunterkünfte sind dort nach wie vor zu schlecht. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Flüchtlinge bleiben können, wenn sie einmal eingereist sind, sei hoch, sagt auch der Konstanzer Europarechtler Daniel Thym.