Der Grosse Rat, wie es in der Schweiz heißt, lehnt das Begnadigungsgesuch ab. Sogleich legt der Regierungsrat den Hinrichtungstermin auf den übernächsten Tag fest. Der 24-jährige Jakob Hungerbühler soll am Mittwoch, 29. November 1854, um sieben Uhr morgens sterben. Das Todesurteil wird „in Gegenwart einer ungewöhnlich großen Zuschauermenge“ vollzogen, berichtet die „Thurgauer Zeitung“ damals.

Hungerbühler hatte sich während der Schwurgerichtsverhandlung über den ihm zur Last gelegten Raubmord in der Käserei Sommeri kalt und gefühllos gezeigt. Nun ist anscheinend Reue bei ihm eingekehrt. Er hat sich in das Unabänderliche ergeben. „Mit gewohnter Meisterschaft“, so der Bericht weiter, führt Scharfrichter Petermann von Altstätten den Schwertstreich, und im Nu liegen „Haupt und Rumpf des armen Sünders am Boden“.

Kaplan Hollenstein hält demnach „in ausgezeichneter Weise“ die Standrede. Die sichtlich ergriffenen Zuhörer hören sie mit tiefstem Stillschweigen an. „Mögen die darin ausgesprochenen Wahrheiten Beherzigung finden und der ernste Act, den hier der Arm der Justiz zu vollziehen hatte, für die Zukunft warnend in Erinnerung bleiben!“ Die Hinrichtung ist vollzogen; es wird die letzte im Thurgau sein.

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Relative Milde im Kanton Thurgau

Als der Kanton Thurgau 1803 entstand, übernahm er das „Helvetische Peinliche Gesetzbuch“ von 1799 als provisorisches Strafgesetzbuch. Dieses sah die Todesstrafe für Mord und Brandstiftung vor. Die einzige erlaubte Tötungsart blieb die Enthauptung durch das Schwert. Im 18. Jahrhundert waren Verurteilte hier auch gehängt worden.

1663 wurde das letzte Mal ein Mensch bei lebendigem Leib verbrannt. Die letzte Räderung fand 1717 statt. 1841 trat das erste Strafgesetzbuch des Kantons Thurgau in Kraft, das sich durch seine relative Milde auszeichnete, wie die Historikerin und Germanistin Romy Günthart in „Verurtheilt zur Strafe des Schwertes“ schreibt. Bei Brandstiftung wurde die Todesstrafe nur angedroht, wenn jemand dabei starb und das vorausgesehen werden konnte.

Romy Günthart geht in ihrem 220-seitigen Buch das Thurgauer Justizwesens im 19. Jahrhundert ein. Ihre Beschreibung der neun Fälle, die ...
Romy Günthart geht in ihrem 220-seitigen Buch das Thurgauer Justizwesens im 19. Jahrhundert ein. Ihre Beschreibung der neun Fälle, die die Hinrichtung von neun Männern und zwei Frauen zur Folge hatten, fesseln die Leserinnen und Leser. | Bild: Jos Schmid

Neuer Wohlstand schürt Neid

In ihrem Buch bettet Günthart mehrere Taten und Täter in den sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund ein. Im Fall Jakob Hungerbühlers und des Raubmords in der Käserei Sommeri spielt der Wandel in der Landwirtschaft eine Rolle. Die neuen Eisenbahn- und Dampfschiffverbindungen ermöglichen ab 1850 den Import von billigem Getreide.

Im Thurgau wird vielerorts von Ackerbau auf Milchwirtschaft umgestellt. Die entstehenden Käsereien sind bekannt dafür, dass bei ihnen Bargeld vorhanden ist, denn die Käser besorgen den Verkauf von Butter und Käse auf eigene Rechnung und bezahlen aus dem Erlös die Milchlieferanten.

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Als die Bauern am 1. Juli 1854 frühmorgens ihre Milch in der Käserei Sommeri abliefern wollen, finden sie die beiden Käser, die Brüder Xaver und Joseph Anton Kessler, schwer verletzt in ihrer Schlafkammer. Die Geldkiste an der Wand steht offen. Überall sind Blutspuren. Zwei Tage später ist Joseph Anton Kessler tot. Sein Hinterkopf war eingeschlagen worden, wie Leichenschau und Obduktion ergeben.

Wie Zeugenaussagen ergeben, hat Joseph Anton Kessler am Vorabend um 22 Uhr noch versucht, sich zum Arzt nach Obersommeri zu schleppen, ist aber immer wieder ohnmächtig geworden und schließlich halb betäubt umgekehrt. Xaver Kessler erholt sich nach wochenlanger ärztlicher Behandlung.

Der Knecht macht sich verdächtig

Die Suche nach der Täterschaft bleibt lange erfolglos. Der Knecht und Färber Jakob Hungerbühler macht sich verdächtig, weil er ungewöhnlich viel Geld ausgibt. Bei einer militärischen Musterung in Amriswil wird er am 10. September 1854 verhaftet. Am 15. September wird er ins kantonale Untersuchungsgefängnis nach Frauenfeld, das heutige Archäologiemuseum, überführt.

Er kann nicht plausibel erklären, woher er sein Geld hat. Er gilt als roher Mensch, der öfter in Prügeleien verwickelt ist. Morgens ist er in der Regel einer der Ersten, die in die Sennhütte kommen. Er behauptet, am Abend des 30. Juni bei seinen Eltern gewesen zu sein, was diese aber nicht bestätigen. Hungerbühler beteuert seine Unschuld.

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Drei Wochen nach seiner Einlieferung in Frauenfeld gelingt ihm die Flucht. Nach wenigen Tagen wird er erschöpft in der Gegend von Sommeri aufgegriffen. Nun gesteht Hungerbühler, er habe die beiden Sennen mit einem Stein auf den Kopf geschlagen. Er habe sie nur betäuben wollen, um sie auszurauben.

Geistliche verteidigten lange die Todesstrafe

Die Abschaffung der Todesstrafe war zwar schon im 18. Jahrhundert von Aufklärern europaweit gefordert worden. In der Schweiz stellte man sie aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum infrage. Befürworter erklärten, eine Abschaffung würde dem sündig gewordenen Menschen die angemessene Sühne unmöglich machen und ihm damit die Hoffnung auf die Rettung seiner Seele nehmen. So argumentierten auch die Geistlichen, die die Todeskandidaten betreuten.

So etwa Kaspar Fröhlich aus Aufhofen bei Thundorf, der für die Vergiftung seiner Frau am 14. März 1834 hingerichtet wurde. „Er erkannte die Grösse seiner Schuld und des Richters gerechten Spruch“, schrieb die „Thurgauer Zeitung“. „Während der Verlesung des Urtheils hob er seine Hände betend gen Himmel und als der Stab über ihn gebrochen wurde, rief er aus: Ich sterbe mit Freuden.“

(Archivbild von 2019) Mit diesem Schwert, ausgestellt im Schloss von Frauenfeld, sollen im Thurgau bis ins 19. Jahrhundert Menschen ...
(Archivbild von 2019) Mit diesem Schwert, ausgestellt im Schloss von Frauenfeld, sollen im Thurgau bis ins 19. Jahrhundert Menschen enthauptet worden sein. | Bild: Donato Caspari/Thurgauer Zeitung

Der Ablauf der Hinrichtungen war laut Günthart „hoch ritualisiert“. So gab es einen Hinrichtungszug, mit dem der Verurteilte zum Rathaus Frauenfeld geführt wurde. Dort wurde das Urteil öffentlich verlesen. Ein Regierungsmitglied zerbrach den Stab – das Symbol richterlicher Gewalt – über dem Verurteilten. Dieser wurde dem Scharfrichter übergeben, auf einen Wagen gesetzt und via Schlossbrücke zur Richtstätte geführt.

Dabei handelte es sich um eine solide gemauerte, bühnenartige Stätte. Bis 1843 übte Johannes Näher das Amt des Scharfrichters aus. Er richtete mindestens 20 Menschen hin, die meisten in Frauenfeld. Hauptberuflich praktizierte er als anerkannter Arzt für leichte Fälle. Später wurden bei Bedarf auswärtige Scharfrichter aufgeboten.

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Langsame Abkehr von Todesstrafe

Die Diskussion um die Todesstrafe erlebte in der Schweiz einen Höhepunkt, als am 24. Mai 1854 in Lenzburg der 33-jährige Dieb Bernhard Matter enthauptet wurde, obwohl er weder jemanden getötet noch verletzt hatte. Bei der Hinrichtung Jakob Hungerbühlers in Frauenfeld im selben Jahr zeigte sich der Wandel in der Einstellung zur Todesstrafe. Im Gegensatz zu früheren Hinrichtungen entschied der Regierungsrat, das öffentliche Verlesen des Todesurteils, das Stabbrechen und das Läuten der Kirchenglocken seien zu unterbleiben.

Mit der Bundesverfassung von 1874 wurde die Todesstrafe in der Schweiz abgeschafft. 1879 erhielten die Kantone das Recht, sie wieder einzuführen. Zehn Kantone, darunter St. Gallen, Appenzell Innerrhoden und Schaffhausen machten davon Gebrauch, nicht aber der Thurgau. Aus dem zivilen Strafrecht der Schweiz wurde die Todesstrafe 1942 gestrichen, 1992 auch aus dem Militärstrafrecht.

Thomas Wunderlin ist Mitarbeiter unserer Partnerzeitung, der „Thurgauer Zeitung“, in der dieser Artikel zuerst erschien.