Vor Einzelrichter Cyrill Kramer sitzt ein 54-jähriger Deutscher, nennen wir ihn Otto. Er lebt am Zürichsee und ist als Personalvermittler tätig. Die Anklage wirft ihm einfache Körperverletzung sowie mehrfache üble Nachrede vor – begangen im August 2020 im Bezirk Zurzach. Der Staatsanwalt hat als Sanktion eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu 220 Franken (22.000 Franken) beantragt, bedingt erlassen auf zwei Jahre sowie 1500 Franken Buße.
Ans Gericht wird Otto von seiner Tante Katrin (alle Namen geändert) und einem ihrer Söhne begleitet. Die 64-Jährige und ihr gleichaltriger Gatte Mathieu sind letztlich ursächlich dafür, dass Otto überhaupt vor den Richter treten muss.
Das Paar lebt seit über fünf Jahren getrennt
Die Tante und ihr Ehemann sind beide Akademiker; der promovierte Mathieu hat sich allerdings vor über zehn Jahren beruflich neu orientiert, hin zu einer bodenständig-körperlichen Tätigkeit – weit entfernt von der Materie, die er studiert hatte. Das Paar lebt seit über fünf Jahren getrennt, aktuell ist die Scheidung aufgegleist.
Trotz Verbot betritt der Noch-Ehemann die Wohnung
Bereits bei der Trennung hatte der Richter für Mathieu ein Betretungsverbot für die zuvor gemeinsam mit Katrin bewohnte Liegenschaft verhängt. Als Otto an einem Abend im August 2020 Mathieu eben dort antraf, forderte er ihn auf, das Areal unverzüglich wieder zu verlassen. Dies lehnte Mathieu mit der Begründung ab, dass er sich um die Tiere kümmern und im Haus eine Mappe holen müsse.
Der Mann der Tante erstattet Anzeige bei der Polizei
In der Folge gab ein Wort das andere, und auch die Hände blieben nicht untätig. Jedenfalls fühlte Mathieu sich bemüßigt, nach dem Disput im nahen Spital vorzusprechen und dokumentieren zu lassen, was Otto ihm zugefügt hatte, und bei der Polizei Anzeige wegen Körperverletzung zu erstatten. Monate später hatte Otto Mathieu bei dessen Beiständin und der Spitex derart verunglimpft, dass der Staatsanwalt den Tatbestand der üblen Nachrede als erfüllt sah.
Sie haben sich immer wieder gegenseitig angezeigt
„Ich kenne diese Ehe sehr gut. Ich war oft bei den beiden, habe zeitweise auch dort gelebt“, betont Otto. Die Feststellung von Richter Kramer – es habe im Verlauf der Jahre gegenseitig bereits diverse Anzeigen bei der Polizei gegeben – kommentiert Otto lapidar mit: „Die sind alle eingestellt worden.“
An jenem Abend habe Mathieu ganz klar ins Haus gewollt. „Als ich ihn aufhalten wollte, ist er förmlich ausgerastet. Ich wurde überrascht von dem Angriff. Schließlich ist er mir körperlich überlegen und war im Militär Stabsoffizier.“
„Nichts von den Behauptungen ist wahr“
Otto ist ein äußerst eloquenter Redner, der sich als einen „sehr seriösen und korrekten“ Berufsmann bezeichnet. An der Verhandlung hat er fein ordentlich eine Reihe schriftlicher Unterlagen vor sich ausgebreitet. „Nichts von dem, was Mathieu der Polizei gegenüber behauptet hat, ist wahr“, so sein Credo bei der Befragung durch den Richter. Als Otto beginnt, dies mit dem Vorlesen von Vernehmungsprotokollen zu bekräftigen, wird er vom Richter gestoppt: „Sie können davon ausgehen, dass wir das alles gelesen haben.“
In seinem Schlusswort betont Otto, dass er in Notwehr gehandelt habe. „Wir alle sind Opfer, der Täter ist Mathieu.“ Cyrill Kramer beurteilte den Vorwurf der üblen Nachrede wegen Verjährung nicht und spricht den 54-Jährigen vom Vorwurf der einfachen Körperverletzung frei.
So begründet der Richter das Urteil
„Es ist nicht klar, wie genau die Auseinandersetzung an jenem Abend verbal und körperlich ablief. Klar ist jedoch, dass die im Spital bei Mathieu festgestellte leichte Rötung und Kratzspur sowie die stecknadelgroßen Einblutungen an der Lippe keine einfache Körperverletzung sind, sondern höchstens eine Tätlichkeit, und als solche wäre die Anzeige von Mathieu eingestellt worden.“ Bei diesem Freispruch gehen die Kosten zulasten des Staates.
Die Autorin arbeitet für die „Aargauer Zeitung“. Dort ist dieser Beitrag zuerst erschienen.