Es gibt Leute, die halten den Besuch eines Weihnachtsmarkts für eine Strafaktion. Aus allen Poren schwitzt Glühwein. Christmas-Gedudel klebt wie Lebkuchen in den Ohren. Kinderaugen strahlen wie Zimtsterne. Keine Stadt mehr ohne Weihnachtsmarkt.
Das Warenangebot ist fast austauschbar. Weihnachtsmärkte beleben Innenstädte und kurbeln den Tourismus an. Der Weihnachtsmarkt – nur ein Geschäftsmodell in der Überproduktionskrise?Kann man so sehen, kann man beklagen. Allerdings kann man damit nicht erklären, warum Weihnachtsmärkte so ungeheuer beliebt sind. Kein Event, keine Ware hat Erfolg, nur weil es Marketing-Strategen so wollen. Jedes Produkt muss auch ein Bedürfnis befriedigen. Wünsche können zwar geweckt werden. Aber um geweckt zu werden, müssen sie erst einmal vorhanden sein, tief versteckt. Welcher Wunsch treibt mich auf den Weihnachtsmarkt?
Weihnachtsmärkte sind Sehnsuchtsorte. Man sehnt sich zurück in jene Zeit, als die Welt noch klein und überschaubar war. „Let‘s take back control“ – man will zurück ins Dorf. Das Dorf in der Stadt heißt Weihnachtsmarkt. Kleine Häuschen stehen beisammen. Viele sind traditionell gebaut. Sie sind aus Holz und haben oft Satteldächer, Schnitzwerk und Schmuck.

Die erleuchteten Fenster mit ihren Auslagen versprechen Wärme und Geborgenheit. Man erinnert sich: War es nicht schön damals, als wir in den Bergen wanderten und im Nebel endlich das Fenster der Hütte sahen? Oder in der Nacht die Lichter im fernen Dorf? Zu jeder Freude gehört auch Entbehrung – zum Weihnachtsmarkt gehört die Kälte, das wärmende Glühwein-Glas in den Händen. Man hält es fest, auch bei zehn Grad plus. Eine Erinnerung an die gute kalte Zeit.
Auf jedem Weihnachtsmarkt gibt es Tannenbäume und echtes Grün. Sie spielen Wald und Natur, und über dem Dorf funkeln Sterne. Es ist dies eine Welt für sich. Abgeschlossen wie eine Schneekugel, auf Zeit angelegt wie ein Pop-Up-Fenster. Natürlich ist das alles künstlich. Doch die Illusion wirkt. Als sei ein Dorf wie aus Zauberhand mitten in die Stadt gefallen.
Land und Stadt in einem
Geht natürlich nicht. Aber man glaubt doch kurz daran. Denn der Zauber spricht einen Wunsch an: zugleich auf dem Land und in der Stadt zu sein. Wer es sich leisten kann, hat ein Loft in der Stadt und zudem ein Chalet in den Bergen. Auf dem Weihnachtsmarkt hat man beides. Man kann die Kirche im Dorf lassen und hat das Dorf in der Stadt.
Diese Weihnachtsmarktwirtschaft funktioniert ein bisschen wie früher. Man kann in Ruhe von Haus zu Haus, von Laden zu Laden gehen. Es gibt Handwerker aller Art. Die Produkte scheinen keine Fabrikware zu sein, sondern Handarbeit. Aus Holz gebaut, gebastelt, gestrickt oder mundgeblasen. Man kann die Dinge bestaunen, anfassen und mit den Verkäufern über Herkunft und Qualität reden. Wo sonst in der Warenwelt gibt es das noch?

In den Supermärkten schon mal nicht, nicht beim Discounter auf der grünen Wiese, erst recht nicht im Online-Handel. Und die kleinen Läden in der Innenstadt sterben aus, nicht nur wegen der Online-Firmen, sondern auch wegen hoher Mieten und einem Mangel an stadtplanerischer Fantasie.
Weihnachtsmärkte sprechen alle Sinne an. Es gibt dort Gerüche und Geschmacksrichtungen aller Art, Musik und Gespräche, Waren zum Betasten und zum Probieren. Das erinnert an die Zeit, als Einkaufen ein Rundum-Erlebnis war. Als es noch ein gutes Wort an der Ladentheke gab und für das Kind beim Metzger eine Scheibe Wurst.
Ersatz fürs Einkaufserlebnis
Heute wird man durch Regalreihen voller plastikverschweißter Produkte geschleust wie ein, brutal gesagt, Stück Rindvieh und an der Kasse gemolken und das möglichst schnell per Handy-Bezahlung. Schon gibt es kassenlose Läden und erste Self-Check-Outs.
Ein sinnenfreudiges Erlebnis sind solche Einkäufe wirklich nicht – deshalb braucht es als Erlebnis-Ersatz künstliche Events in den Kaufhäusern und Shopping Malls. Der Erfolg der Weihnachtsmärkte verdeutlicht, wie trist das Einkaufen im Alltag geworden ist.
Traditionelle Weihnachtsmärkte sind für ein paar Wochen das warme Zentrum einer Stadt. Sie leuchten, sie tönen, sie duften. Die Menschen drängen sich aneinander. „Wo sich die Hintern aneinander reiben, dort läuft das Geschäft“, sagte einer der ersten Warenhaus-Besitzer.
Man kann es auch anders sagen. Es gibt einen Satz von Johann Wolfgang von Goethe, der den Seelenzustand vieler Menschen im Weihnachtsdorf der Illusionen gut beschreibt: „Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter hinweg.“