Interessiert sich eigentlich noch jemand für die soziale Frage? Für Armut, Ausbeutung, Gerechtigkeit?
Der Zustand sozialistischer Parteien lässt daran zweifeln. In Frankreich brachten die Erben François Mitterands zuletzt noch gut sechs Prozent auf die Waage. Und auch in Deutschland wankt die SPD Richtung Abgrund: trotz Mindestlohn-Einführung, „Respektrente“ und weiterer Wohltaten für die Benachteiligten.
Lieber mehr Zeit statt Geld
Mag der Paritätische Wohlfahrtsverband auch noch so nachdrücklich ungleiche Einkommensverhältnisse kritisieren: Die meisten Menschen wählen statt mehr Geld lieber Zeit und Sicherheit. Bei Tarifforderungen etwa lösen Urlaubsoptionen zunehmend den Wunsch nach Gehaltserhöhung ab.
Und statt Steuersenkungen oder Kindergelderhöhungen geht es an den Wahlurnen um Migration und Klimawandel: Folgeerscheinungen unseres historisch beispiellosen Wohlstands.

Die Erfahrung von Hunger und Vertreibung liegt bei den westlichen Industrieländern schon mehr als zwei Generationen zurück. In den USA zum Beispiel waren es die Opfer der „Großen Depression“: jener tiefgreifenden Wirtschaftskrise, in der vor allem Millionen von Kleinbauern enteignet und regelrecht versklavt wurden.
Denkmal für die Enteigneten
John Steinbeck hatte ihnen mit seinem Roman „Früchte des Zorns“ ein Denkmal gesetzt. Am Zürcher Schauspielhaus versucht nun Regisseur Christopher Rüping, das Schicksal der armen Familie Joad ins Heute zu übersetzen. Es ist die erste eigene Produktion unter dem neuen Intendanten-Duo Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg.
Zürich, zweitteuerste Stadt der Welt: Wie mag man diesem Publikum ein Gefühl für Armut vermitteln? Und welche Erkenntnisse?
Zwei Welten prallen aufeinander. In schlichten, dunklen Gewändern: Mutter Joad (Maja Beckmann) mit Tochter (Nadège Kanku) und Sohn Tom (Nils Kahnwald). Grell bunt mit den Symbolen der großen Modemarken: eine sogenannte Gucci-Gang. Hippe Typen mit flotten Sprüchen, die mal am Mikro einen Popsong intonieren, mal den Armen einflüstern, was sie gerade so sagen sollen.
Es sind die klassischen Redewendungen der Not: „Die ganze Ernte ist zum Teufel gegangen!“, „Was sollen wir jetzt machen?“, „Wir müssen zusammenhalten!“
Die gemeinen Konsumjunkies
Die flotten Konsumjunkies machen sich einen Spaß daraus, der armen Frau Joad einen ferngesteuerten Gabelstapler vorbeizuschicken. Sie müsse jetzt ihr Zuhause aufgeben, sagt er ihr mit mechanischer Stimme: Eine Bank erhebe nämlich Anspruch darauf. „Wir müssen das machen. Wir machen es nicht gern.“
Weitere Gemeinheiten folgen: Den Tod der Großeltern auf der beschwerlichen Reise durch die Wüste spielen die Gucci-Kids mal eben selbst. Und angekommen im vermeintlich gelobten Land nötigt einer von ihnen Tom zum Mitspielen in einer pervers voyeuristischen Sozialdoku fürs Fernsehen.

Der Unterschicht lässt sich schwer entkommen, wer einmal den Verliererstempel trägt, wir ihn nicht so schnell wieder los. Neu ist diese Erkenntnis nicht.
Das Problem dieser Inszenierung besteht nicht allein in einer erkennbaren Ferne zum 80 Jahre alten Stoff. Sie ist auch in der Wahl ihrer Mittel missverständlich: Sind die geradezu lächerlich bunten Gucci-Klamotten wirklich Inbegriff einer Wohlstandsschicht? Oder handelt es sich nicht vielmehr um billige Fälschungen, wie sie vor allem für Modevorstellungen in sozialen Brennpunkten typisch sind?
Das gelobte Land – ein Luftschloss
Zu musikalischen Huldigungen auf den goldenen Staat Kalifornien – von The Mamas And The Papas bis zu den Eagles – blasen sie goldene Ballon-Kakteen und Gummi-Orangenbäume auf (Bühne: Jonathan Mertz). Das verheißene Land soll sich als Luftschloss erweisen: schön und gut, aber auch diese Dimension der Armutsflucht erscheint uns nur zu bekannt.
In seiner Klischeehaftigkeit wirkt das wie ein ungewollter Beweis unseres Unvermögens, wahrhaft existenzielle Not überhaupt noch emotional nachzuvollziehen.

Dass trotz der konzeptionellen Schwäche der Abend leidlich unterhaltsam bleibt, verdankt sich neben den Popsongs auch mancher darstellerischer Leistung. Nadège Kanku etwa lässt in der anfangs so naiven Tochter einen Reifeprozess spürbar werden. Und Maja Beckmanns Mutter Joad wirkt angesichts der schrägen Bühnenaktionen so wunderbar irritiert, dass man sie aus dem Wahnsinn befreien möchte.
In dem Schauspielensemble steckt also erkennbar Potenzial: wenigstens eine gute Nachricht an dieses Abends.
Weitere Vorstellungen von „Früchte des Zorns“ gibt es am 30. Oktober 2019 sowie am 4., 12. und 15. November. Informationen dazu finden Sie hier.
Drei Fragen an … Katinka Deecke, Leitende Dramaturgin am Schauspielhaus Zürich
Frau Deecke, was ging Ihnen bei der ersten Lektüre durch den Kopf?
What a heavy hitter!
Was war die größte Schwierigkeit?
Wie erzählt man in der reichsten Stadt der Welt von Armut?
Der stärkste Satz des Abends?
„Wehr dich!“