Die Mutter spuckt. Und zwar nicht irgendwohin, sondern ins Gesicht des Sohnes. Ragnar Kjartansson steht da, schließt ab und zu die Augen, wenn der Sprühnebel direkt auf ihn zukommt. Der Gleichmut, mit dem der 1976 in Reykjavik geborene Künstler die scheinbar so offensichtlichen Demütigungen der Mutter erträgt, ist kaum auszuhalten.
„Wehr dich!“, will man dem Biennale-Teilnehmer von 2009 zurufen. Doch die Zeit vergeht, Mutter und Sohn werden älter, verändern sich optisch. Die Anordnung aber bleibt immer dieselbe. Alle fünf Jahre zeichnet Kjartansson die seltsame Konstellation mit seiner Mutter, einer isländischen Schauspielerin, auf. Vier Video-Versionen hat er bereits geschaffen, 2020 wird er „Me And My Mother“ um eine weitere ergänzen.
Verstörend, humorvoll, aufrüttelnd, melancholisch? Die Arbeiten des im Theatermilieu aufgewachsenen Künstlers haben von allem etwas, vereinen Performance, bildende und darstellende Kunst, Theater, Literatur und Musik zu einem Kosmos, dem man im Kunstmuseum Stuttgart unmittelbar erliegt.
In der Video-Arbeit „Visitors“ sitzt Kjartansson Gitarre spielend in der Badewanne und musiziert mit Freunden auf der historischen Rokeby-Farm im New Yorker Hinterland. In Zeitlupe bewegen sie sich über neun Leinwände hinweg über die Terrasse in den Garten. Die sich wiederholende Melodie- und Gesangsschleife hat etwas Meditatives.
Jäh durchbricht die für das Museum eingerichtete Dauerperformance „Tod einer Dame“ die Idylle: Hingegossen im weißen Kunstschnee liegt eine Frau in Abendgarderobe. Die Augen geschlossen, atmet sie flach, während das aus einer Schusswunde tretende Kunstblut das elegante weiße Kleid verfärbt. Rieselnder Schnee friert einen aus Oper und Film bekannten Moment des Sterbens ein und hüllt die Szene in Stille.
Eiseskälte strahlen die schneebedeckten Krater des Lavafelds Eldrhaun aus, für die sich der Künstler als der Tradition verpflichteter Freiluftmaler betätigte und mit der er die Vorstellung einer typisch isländischen Landschaft bedient.
Ob Klischees westlicher Kultur beschworen werden oder eine Installation mit zwei über grüne Felder spazierenden Liebespaaren in eine laue Mittsommernacht entführt: Immer wieder öffnet sich eine neue Welt, werden romantische Gefühle ironisch gebrochen.
Faible für die deutsche Sprache
Das titelgebende Werk „Scheize – Liebe – Sehnsucht“ ist eine Hommage an die Lieblingsworte des Isländers mit Affinität zur deutschen Sprache, die er auch stehen lässt, wenn er sich nicht mehr an die korrekte Schreibweise erinnert. Für Kjartansson gehört auch das zum spielerischen Umgang mit Kunst, die nur dann „gut wird, wenn sie aus der Melancholie heraus entsteht.“
Die Ausstellung „Scheize – Liebe – Sehnsucht“ läuft bis 20. Oktober 2019 im Kunstmuseum Stuttgart. Geöffnet ist Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr und Freitag bis 21 Uhr. Weitere Informationen gibt es hier.