Erst kamen die Künstler, dann die Händler. Dass zahlreiche im Dritten Reich verfemte Maler wie Otto Dix, Max Ackermann und Erich Heckel sich am Bodensee niederließen, ist bekannt: Die nahe Grenze zur Schweiz bot eine ständige Fluchtmöglichkeit. Weniger beachtet war bis zuletzt, dass nach dem Krieg plötzlich eine zweite Welle auf den Bodensee zurollte. Diesmal handelte es sich nicht um verfolgte Künstler, sondern um geschäftstüchtige Händler.

Eine Ausstellung in Friedrichshafen zeigte auf, dass auch sie die Nähe zur Schweiz schätzten. Schließlich konnte man dort mancherorts Kunst von zweifelhafter Herkunft erwerben. So manches unter Raubkunstverdacht stehende Bild ist von Händlern aus unserer Region erst über die Grenze gebracht und dann an Museumsdirektoren und Privatkunden verschachert worden. Die Verdächtigen heißen Benno Griebert, Bruno Lohse oder auch Herbert Hoffmann – Namen, die allenfalls Experten geläufig sind. Doch dann sitzt man plötzlich in einem Überlinger Café und hört den Namen: Gurlitt.

Cornelius Gurlitt, Sohn und Erbe des legendären Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt (1895-1956), hatte nach dem Krieg Jahrzehnte lang in seiner Münchner Wohnung Bilder versteckt. 2013 gelangten sie auf spektakuläre Weise wieder ans Licht der Öffentlichkeit: Hat er etwa hier am Bodensee Geschäfte gemacht?

Der den Namen nennt, ist Maurice Philip Remy. Als Dokumentarfilmer und Buchautor hat er sich über Jahre hinweg mit dem Fall befasst. Seine These ist, dass Cornelius Gurlitt Unrecht getan worden ist. Weder seien nur annähernd so viele Bilder als Raubkunst einzustufen wie anfangs von den Behörden suggeriert wurde. Noch habe sich Gurlitt überhaupt etwas zuschulden kommen lassen, was die Durchsuchung seiner Wohnung in München-Schwabing und die Beschlagnahmung seiner Sammlung rechtfertigt hätte. Umso erstaunlicher wäre, ihn als dubiosen Raubkunsthändler am Bodensee zu vermuten.

Doch es geht gar nicht um Cornelius Gurlitt. Sondern um dessen erst 2016 verstorbenen Cousin Dietrich, Bürger der Stadt Überlingen. Im Zuge der Affäre um den Schwabinger Kunstfund war er nur einmal in Erscheinung getreten: als seine Schwester Uta 2014 Anspruch auf die Bilder erhob. Cornelius Gurlitt, der seinen Besitz dem Kunstmuseum Bern vermacht hatte, sei beim Verfassen seines Testaments nicht bei Sinnen gewesen, so lautete die Begründung. Dietrich widersprach: Das Schweizer Museum möge die Sammlung an sich nehmen.

„Er wusste mehr, als er sagte“

Dietrich Gurlitt, sagt Remy, sei kein Kunsthändler gewesen, sondern habe in Überlingen sein Geld als Geologe verdient. Und doch könnte er bei dem einen oder anderen Bildverkauf eine Rolle gespielt haben. So finden sich in den Geschäftsbüchern seines Onkels und Patenonkels Hildebrand Gurlitt zu ihm zwei Eintragungen. Die erste stammt aus dem Jahr 1938 und bezieht sich auf ein Gemälde von Juan de Arellano: „Fälschung, geschenkt an Dietrich, Berlin“, heißt es. Die zweite Eintragung betrifft ein Bild von Auguste Renoir im Jahr 1941: „laut Brief vom 27.XII. an Dietrich Gurlitt als Provision gegeben“. Wie ist das zu verstehen?

Dass Dietrich Gurlitt eine derart wertvolle Provision erhalten habe, meint Remy, sei unwahrscheinlich. „Er war damals ja gerade mal 21 Jahre alt.“ Denkbar sei, dass er das Bild zwar tatsächlich erhielt, es später aber wieder an seinen Onkel zurückverkaufte. Und möglich auch, dass beide Eintragungen komplette Erfindungen waren: „Hildebrand Gurlitt hat seine Geschäftsbücher vor allem aus steuerlichen Gründen wüst manipuliert. Es könnte sein, dass er pro forma eine Schenkung und eine Provision eingetragen hat, um die Bilder auszubuchen und sie anschließend in Privatbesitz zu übernehmen.“

Klarer liege ein dritter Fall. 1949 nämlich bekam Dietrich Gurlitt eine zwölfbändige teilweise kolorierte Ausgabe von Landkarten in die Hände. Ursprünglicher Besitzer: Ludwig XIV., der Sonnenkönig von Versailles. Inzwischen lagen sie im Depot des Herzogs von Braunschweig, der für sie über den Kunsthändler Hildebrand Gurlitt einen neuen Käufer suchte. Der wandte sich offenbar an seinen Geologen-Neffen Dietrich, beauftragte ihn mit einem Gutachten und versprach sogar ganz konkret eine Provision für den Fall, dass die Bände (Wert: zwischen 45 000 und 100 000 D-Mark) einen Käufer finden. Fanden sie aber nicht. Die Bücher gingen zurück, die erhoffte Provision fiel ins Wasser.

Hat Dietrich Gurlitt aus Überlingen also jemals selbst mitverdient am großen Kunstmarkt? Man dürfe ihm nicht Unrecht tun, sagt Remy, der ihn noch persönlich kennen gelernt hat. „Ihn in denselben Kunsthändler-Topf zu werfen wie Hildebrand, das hätte er nicht verdient.“ Mit dem großen Handel mit Raubkunst habe Dietrich Gurlitt sicher nichts zu tun gehabt. Ebenso gewiss sei aber: „Er hat über seinen Onkel und dessen Geschäfte mehr gewusst, als er später aussagte.“

Am Donnerstag, 6. September (19 Uhr), hält Maurice Philip im Zeppelin Museum Friedrichshafen einen Vortrag zum „Fall Gurlitt“.