Das Volk braucht einen Führer. Einen starken Mann, an den man glaubt und der die Menschen beschützen kann vor all den Zumutungen, die das Leben so mit sich bringt. In Richard Wagners Oper „Lohengrin“ ist es der Schwanenritter, der quasi vom Himmel fällt, um die Brabanter gegen die feindlichen Hunnen zu verteidigen und dazu noch Elsa, der Tochter des verstorbenen Herzogs, eheliches Glück zu schenken.

In Árpád Schillings „Lohengrin“-Inszenierung, der ersten Premiere der Staatsoper Stuttgart unter der Intendanz von Viktor Schoner, ist der edle Ritter ein bärtiger Zausel mit Parka, der mehr oder weniger unfreiwillig hineingestoßen wird in die Rolle des Retters. Dem Volk ist es gleich – Hauptsache, es findet sich einer, der den Job übernimmt.

Das eigene Leben als Inspiration

Árpád Schilling, künstlerisch sozialisiert im postsozialistischen Ungarn der 90er-Jahre, hat erlebt, wie ein Volk, das durch einen radikalen politischen Wandel orientierungslos geworden ist, sein Heil in einem autoritären Führer sucht, und diese Erkenntnisse in seiner Arbeit als Regisseur verarbeitet. Krétakör, Kreidekreis, nennt sich sein Ensemble, das schnell über die Grenzen Ungarns hinaus bekannt und zu vielen europäischen Festivals eingeladen wurde, 2009 erhielt er den Europäischen Theaterpreis für Neue Realitäten im Theater.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán bedankte sich dafür auf seine Weise: Im September 2017 wurde Schilling vom Ausschuss für Nationale Sicherheit des ungarischen Parlaments offiziell zum „Staatsfeind“ erklärt. Kein Wunder also, dass Schilling, der sein Debüt als Opern-Regisseur an der Bayerischen Staatsoper in München gab, seinen Fokus auch im „Lohengrin“ auf gesellschaftliche Zusammenhänge richtet.

Die Bühne ist praktisch leer

Die gesamte Oper spielt in einem schwarzen, nach hinten abfallenden Stollen, Requisiten gibt es außer ein paar ausgestopften Schwänen kaum. Eine „leere Bühne“-Ästhetik, um die Aufmerksamkeit komplett auf die Protagonisten auszurichten.

Deren Hoffnunglosigkeit vor Lohengrins Ankunft findet Ausdruck in ihrer Kleidung. Graf Telramund sieht mit seinem schlecht sitzenden Anzug und der Hornbrille aus wie die Karikatur eines sozialistischen Parteifunktionärs. Mausgrau gewandet sind auch die Brabanter, mit Ausnahme des Königs Heinrich: Ein Zweireiher mit Goldknöpfen genügt ihm als Ausweis eines besseren Standes. Im dritten Akt erscheint das Volk in bunten Freizeitklamotten, weniger kriegs- als konsumbereit in Erwartung kapitalistischer Freuden. Umso bitterer ist die Enttäuschung, als das Volk erfährt, dass sein Heilsbringer Lohengrin wieder zurück muss zu seinen Gralsrittern, weil Elsa ihr Versprechen gebrochen hat: ihn nicht zu fragen, wer er ist und woher er kommt.

Das Volk erwartet in bunten Freizeitklamotten kapitalistische Freuden.
Das Volk erwartet in bunten Freizeitklamotten kapitalistische Freuden. | Bild: Matthias Baus

Das alles ist schlüssig gedacht und auch handwerklich sauber gemacht, bleibt szenisch aber über weite Strecken reiz- und spannungslos. Der Kreidekreis auf dem Bühnenboden, mit dem der Kampfraum für Telramund und Lohengrin abgesteckt wird, kann als hübsche selbstreferentielle Anspielung auf den Namen von Schillings Theater-Ensemble gelten. Doch das komplette Ausblenden der mythischen Aspekte der Lohengrin-Sage um Parzival und den Heiligen Gral hat seinen Preis – zumal Schillings Personenführung vor allem im ersten Akt merkliche Defizite aufweist. So viel geschritten, gestanden und an der Rampe gesungen wurde lange nicht auf der Stuttgarter Opernbühne, gerade der Chor wirkte mitunter komplett alleingelassen.

Dass diese Premiere am Ende dann doch – und zu Recht – stürmisch bejubelt wurde, liegt an ihrer musikalischen Qualität. Herausragend in dem durchweg hochklassigen Sänger-Ensemble waren Simone Schneider (Elsa), Okka von der Damerau (Ortrud) und Martin Gantner (Telramund). Martin Königs Tenor (Lohengrin) fehlte es etwas an Höhenglanz. Zu Beginn etwas kehlig, öffnete er sich aber im Verlauf des Stücks mehr und mehr – die Grals-Erzählung gelang ihm berührend.

Cornelius Meisters Debüt ist überwältigend

Der eben erst mit dem Prädikat „Opernchor des Jahres“ ausgezeichnete Staatsopernchor sang wie beflügelt, offenbar ebenfalls inspiriert vom neuen Generalmusikdirektor Cornelius Meister, dessen Debüt nachgerade überwältigend war. Meister vereint die Liebe zum Detail mit dem Gespür für die große Linie – alles mit dem Gefühl für das rechte Maß, nie in Manieriertheiten abgleitend. In den vergangenen Jahren dirigentisch nicht eben verwöhnt, zeigte das Stuttgarter Staatsorchester, welches Potenzial in ihm steckt.

Klangliche Sensationen dieser Art hat man an diesem Haus – gefühlt – seit Jahrzehnten nicht mehr gehört: irisierende, wie mit dem Silberstift gezogene Streicher-Melodien, delikateste Abschattierungen der Bläser, eingebunden in einen edlen, homogenen, niemals statisch wirkenden Gesamtklang. Ein Fest. So darf es weitergehen in Stuttgart.

Weitere Vorstellungen am 14., 20. und 27. Oktober 2018. Informationen gibt es hier.