Torsten Schöll

Der Schnee liegt mindestens drei Fuß hoch in dieser klirrend kalten Nacht, und das monoton schleifende Geräusch des Pferdeschlittens durchbricht kaum die Stille des Winterwalds. Johannes Stiefel ist zufrieden. Der Verkauf einer Kuh hat 20 Gulden gebracht, die jetzt in seiner Geldbörse klingeln. Bald ist der Hof auf der „Kuche“ erreicht. Der Braune vor ihm dampft vor Anstrengung. Am Edelberg, schon ein Stück weit hinter Hermannsdorf, wo er im Wirtshaus noch einen Schoppen getrunken hat, verlangsamt er die Fahrt. War da etwas, hat da nicht jemand geschrien?

Minuten später ist Johannes Stiefel tot. Die genauen Umstände der Tat liegen im Dunkel der Geschichte. Sicher ist, dass der Knecht Jakob Egle dem Bauer den Deichselnagel des Schlittens mit aller Kraft in den Kopf rammt. Der Alte sinkt wie von der Axt gefällt zu Boden. Der Täter, ein stämmiger, rothaariger Kerl von fast 1,90 Meter Körpergröße flieht und lässt sein Opfer und die Tatwaffe zurück.

War es eine Vergewaltigung?

Vormärz in Hohenzollern. Die Mordtat, von der hier berichtet wird, ereignete sich in der Nacht zum 31. Jänner 1843. Das ist verbürgt. Der Tatort ist ein Waldsaum zwischen Hermannsdorf bei Burladingen und dem Weiler Küche, nicht mehr als drei abgelegene Höfe, auf denen ein Häufchen Bauern ihr kärgliches Dasein auf der Schwäbischen Alb fristet. Einer davon ist der Getötete: Johannes Stiefel, 62 Jahre alt, Vater von drei Söhnen und möglicherweise Opfer seiner eigenen Zivilcourage. Denn die Geldbörse trägt das Opfer noch bei sich, als es am nächsten Tag vom eigenen Sohn gefunden wird. Es war kein Raubmord. Hat er den Jakob Egle bei etwas ertappt? Einer Vergewaltigung?

In diesem Hof auf der "Kuche" lebte Johannes Stiefel.
In diesem Hof auf der "Kuche" lebte Johannes Stiefel. | Bild: Archiv Gerd Stiefel

„Das wirkliche Tatmotiv ist unklar“, sagt Gerd Stiefel. Wir stehen an einem kühlen Morgen vor „Stiefels Stein“, einem Gedenkstein, der schon im 19. Jahrhundert zur Erinnerung am Ort des Geschehens aufgestellt und später vom Schwäbischen Albverein erneuert wurde. Schwer zu finden. Der hier ermordet wurde, ist der Großvater des Urgroßvaters von Gerd Stiefel. Und offenbar wollte es eine Fügung des Schicksals (oder doch die vage Möglichkeit, dass traumatische Erlebnisse über Generationen weitervererbt werden?), dass Johannes' Ur-Ur-Ur-Enkel Kriminalbeamter wird, genauer Leitender Kriminaldirektor am Polizeipräsidium Konstanz. Also einer, der die Ermittlungsarbeit von der Pike auf gelernt hat und der sein Privatleben in den vergangenen Jahren zu einem Gutteil damit verbrachte, Licht ins Dunkel der eigenen Familiengeschichte zu bringen. Mord verjährt nicht. Sozusagen.

Ein „Cold Case“ war die Bluttat an Johannes Stiefel freilich nicht, denn der EgleJakob war in Hohenzollern schon bald nach der Tat zur Fahndung ausgeschrieben. Die Hauptakte des Strafverfahrens hat Gerd Stiefel, der in unzähligen Archiven zwischen Sigmaringen und Stuttgart recherchiert hat, im Hauptstaatsarchiv gehoben. Arretiert wurde der Malefikant aber erst 1847 – und zwar in Bologna, damals Teil des Kirchenstaates.

„Die Geschichte der Flucht des Jakob Egle, seine Zeit im Dienst des 1. päpstlichen Fremdenregiments, seine Verhaftung und Auslieferung ans Königreich Württemberg erzähle ich in meinem zweiten Roman ‚Via Bologna‘, der im vergangenen Frühjahr erschien“, sagt Stiefel. Der Kriminalfall sei nach der Tat zum Politikum geworden, weil es zwischen Württemberg und dem Kirchenstaat kein Auslieferungsabkommen gab. Am Ende waren der Fürst von Hohenzollern-Hechingen, der württembergische Justizminister, König Wilhelm von Württemberg, der Kardinalstaatssekretär und Papst Pius IX höchstselbst involviert – und zuletzt sogar Fürst Metternich, der den Gefangenentransport durch die Habsburger Lande genehmigen musste. „Angesichts der angespannten Stimmung im Volk während des Vormärz' wollte man den Mord an einem Bauern offenbar nicht allzu rasch ad acta legen“, ist sich Stiefel sicher. Allerdings konnte aufgrund der politischen Gemengelage der Täter auch nicht des Mordes angeklagt werden, sondern nur der Körperverletzung mit Todesfolge – bei einem drohenden Todesurteil hätte der Kirchenstaat den Angeklagten nicht ausgeliefert. Jakob Egle kam ins Ludwigsburger Zuchthaus und starb dort 1851.

Der zweite Schicksalsschlag folgt

„Dieser erste Mord war in der Familie, als ich ein Kind war, nur Legende“, sagt Stiefel. „Bei Besuchen bei der Großmutter in Onstmettingen wurde im Familienkreis oft darüber gestritten, ob es ein Mord war oder zwei und warum die Urgroßmutter Karoline Stiefel irgendwann mit 11 Kindern und einem Ungeborenen den Hof auf der ‚Kuche‘ verlassen musste“, erzählt der 58-Jährige. Die Neugier habe ihn damals schon gepackt, die Recherchen haben erst Jahrzehnte später begonnen, etwa ab 2005: „Woher kommt die Familie, was hatte es mit den Morden auf sich, gibt es die beiden Gedenksteine im Wald wirklich, was spielte das Diasporahaus in Bietenhausen bei Haigerloch für eine Rolle?“ Der Kriminalist ermittelt fortan in eigener Sache: „Los gings mit dem zweiten Mord an meinem Urgroßvater Friedrich Stiefel.“

Gedenktafel für den ermordeten Friedrich Stiefel.
Gedenktafel für den ermordeten Friedrich Stiefel. | Bild: Torsten Schöll

Denn dieser zweite Schicksalsschlag im Jahr 1893 traf die Familie ungleich härter als die Ereignisse 50 Jahre zuvor. „Die beiden Tatorte liegen nur knapp vier Kilometer auseinander, und der Mord nahe der Ziegelhütte bei Burladingen war eindeutig ein Raubmord, die Tatwaffe ein Messer.“ Diese zweite Gewalttat blieb ungesühnt. Die Familie aber war, anders als 1843, ihres erst 42-jährigen Ernährers beraubt, die Kinder waren allesamt noch jung. Rettung nahte in Form des Pfarrers der pietistischen Enklave Bietenhausen, der die Großfamilie aufnahm, um der schwindenden Gemeinde „frisches Blut zuzuführen“. Gerd Stiefels Urgroßmutter wurde damit zur ersten Hausmutter des dortigen Diasporahauses, heute eine Jugendhilfe-Einrichtung der Evangelischen Kirche. Diese Ereignisse hat Gerd Stiefel in seinem ersten Buch „Stiefels Stein“ verarbeitet. „Mein größter Erfolg war, dass dadurch die tapfere Karoline Stiefel der Vergessenheit entrissen und ein Platz in Bietenhausen nach ihr benannt wurde“, sagt er.

Nach zwei Büchern scheint die Familiengeschichte jetzt auserzählt. Schreiben will der Kriminaldirektor aber auch in Zukunft noch. Es wird wohl auf Krimis hinauslaufen. Vielleicht. Denn andererseits gebe es noch, meint er abschließend, diesen Urahn, der nach Bessarabien ausgewandert sei …

Gerd Stiefel: "Stiefels Stein. Ein Frauenschicksal von der Schwäbischen Alb", Silberburg-Verlag, 184 Seiten, 16,90 Euro. – "Via Bologna. Ein Toter in Hohenzollern", Gmeiner Verlag, 348 Seiten, 14 Euro.