Jeremias Heppeler

Manchmal muss man sich die Dinge ein wenig schönreden: Wenn wir schon nicht mehr vor die Tür dürfen, dann können wir uns immerhin und ohne schlechtes Gewissen allen liegengebliebenen Büchern, Serien und Filmen widmen.

Also klickt man sich durch das digitale Warenlager von Netflix, Amazon Prime und iTunes, auf der Suche nach Ablenkung, nur um dann festzustellen, dass bei dem erst genannten Portal die Suchbegriffe „Seuche“ und „Pandemie“ momentan am höchsten frequentiert werden und bei den Letzteren zwei der Steven-Soderbergh-Seuchen-Thriller „Contagion“ die Liste der meist verkauften Filme anführt. Warum aber schauen wir in Zeiten dieser Krankheits-Krisen ausgerechnet Filme über Krankheits-Krisen?

Wie eine Horrorvision

Eins vorab: „Contagion“ ist ein sehr guter, ein außergewöhnlicher Film. Das 2011 veröffentlichte Werk zeigt Regisseur und Oscar-Gewinner Steven Soderbergh auf der absoluten Höhe seines Schaffens. „Contagion“ überzeugt durch klare, aber sauber durchkomponierte Bildfolgen, schlägt, untermalt von einem teils herausragenden Soundtrack, einen blitzsauberen Rhythmus an und bietet ein von einer herausstechenden Kate Winslet angeführtes Star-Ensemble auf. Und trotzdem wirkt „Contagion“ dieser Tage wie eine Horrorvision.

Das könnte Sie auch interessieren

Es schmerzt und zieht in der Magengegend, speziell in der ersten halben Stunde rutscht der Finger immer wieder in Richtung des rettenden Ausschalters.

Der Film wirkt wie eine wahr gewordene Prophezeiung, die mit Blick auf die Corona-Krise selbst kleinste Details wie einen Viehmarkt in China als Ausgangspunkt der Pandemie vorhersagt. Und ja, würde es der Wissenschaft gelingen, Dinosaurier zu klonen – natürlich würden wir Jurassic Park schauen.

Kassenschlagernder Spätzünder

Es ist die Mund-zu-Mund- (oder eher die Chat-zu-Chat-)Propaganda, die „Contagion“ zum kassenschlagernden Spätzünder macht. Denn wer den Film 2020 sieht, der wird darüber sprechen. Und ihn mindestens indirekt weiterempfehlen. Als absolut einzigartige Seherfahrung. Weil hier Fiktion und Realität, Mögliches und Unmögliches in nie dagewesener Form verschmelzen. Wobei: So ganz richtig ist das auch nicht. Soderbergh drehte „Contagion“ mit dem beinahe wissenschaftlichen Anspruch, eine Pandemie möglichst realistisch vorzuzeichnen und arbeitete aus diesem Grund mit der US-amerikanischen Behörde zum Schutz der öffentlichen Gesundheit zusammen.

Das könnte Sie auch interessieren

Und genau deshalb wollen Menschen diesen Film sehen: Weil er direkte Antworten auf aktuelle Fragen verspricht. Wie wird das alles ausgehen? Wann wird es einen Impfstoff geben?

Schauen Sie ihn bloß nicht!

Selbstverständlich offenbart sich dabei ein Trugschluss. Trotz aller Akkuranz bleibt „Contagion“ nämlich eine Dystopie, der Virus im Film ist um einiges gefährlicher, die Maßnahmen und Reaktionen allein deshalb härter, der Verlauf entsprechend drastischer. Und so bleibt am Ende nur ein Fazit: Schauen Sie diesen Film bloß nicht. Nicht jetzt. Aber vielleicht in einem Jahr. Wenn er eine anspruchsvolle Rückschau auf eine dann hoffentlich überstandene Krise liefert.