„Das Vergangene ist nicht tot: Es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Dieses Zitat aus Christa Wolfs Buch „Kindheitsmuster“ stellt der Dramaturg Miron Hakenbeck an den Anfang seines Programmheftbeitrags zum Opern-Projekt „Boris“, das an der Stuttgarter Staatsoper Premiere hatte – und trifft damit den Kern dieser Inszenierung, die in ihrer hybriden Vielschichtigkeit und ihrem Einsatz an theatralen Mitteln weit über das hinausgeht, was auch an großen Opernbühnen üblich ist.
Der Abend verbindet zwei Werke: die Urfassung von Modest Mussorgskis Oper „Boris Godunow“ und ein Auftragswerk der Staatsoper, das Sergej Newski nach Texten aus dem Buch „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ von Swetlana Alexijewitsch komponiert hat.
Die Traumatisierten kommen zu Wort
In diesen Texten lässt die Nobelpreisträgerin jene Traumatisierten zu Wort kommen, deren Schicksal durch Krieg, Verfolgung und Zusammenbruch gesellschaftlicher Systeme geprägt wurde: Gulag-Opfer, Soldatinnen der Roten Armee, Überlebende der Massenerschießungen im Zweiten Weltkrieg.
„Wir müssen“, so Alexijewitsch, „darüber reden, was mit uns passiert ist.“ Dabei erscheint der Zeitpunkt dieser Aufführung insofern klug gewählt, als im Zusammenhang mit dem Gedenktag zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar sich wieder Stimmen mit dem Tenor zu Wort gemeldet haben, dass es doch allmählich genug sei mit dem Erinnern und Gedenken.
Man solle sich, zumal man persönlich ja keine Schuld trage, auf die Gegenwart konzentrieren und die Vergangenheit hinter sich lassen. Dass genau das nicht geht, sondern im Gegenteil das Vergangene unsere Gegenwart dominiert, zeigt dieser Opernabend auf ästhetisch bezwingende Weise.
Dazu hat Newski in einer Art Montagetechnik in Mussorgskis Oper über den Zaren Boris Godunow, der am Ende von seiner Vergangenheit eingeholt wird – er ließ den rechtmäßigen Thronfolger ermorden, um an die Macht zu kommen – Intermezzi eingearbeitet.

In denen kommen die Protagonisten aus Alexijewitschs Texten, unter anderem ein Partisane, ein Obdachloser und die Mutter eines Selbstmörders, zu Wort. Erleichtert wird diese Vorgehensweise dadurch, dass auch Mussorgskis Oper nicht linear, sondern schlaglichtartig in szenischen Tableaus erzählt wird.
Zwar geraten die Zeitebenen – „Boris Godunow“ spielt im 16. Jahrhundert – ziemlich durcheinander. Aber die Vermischung ist das Grundprinzip dieser Inszenierung, bei der Regisseur Paul-Georg Dittrich mit den historischen Zeiten auch deren Bilder, Personen und Motive über- und ineinanderblendet. Gleich das erste Bild – zuvor wurden auf dem geschlossenen Vorhang Fotos ölverschmierter Seevögel projiziert – zeigt eine dystopische Zukunftsvision.
Beeindruckendes Bühnenbild
Vor einem Bunker, auf dem sich meterdick die Schlacke einer vermutlich im Untergang befindlichen Zivilisation abgelagert hat, wartet das in verschmierte Ganzkörperanzüge gekleidete Volk auf die Inthronisierung des neuen Herrschers und Heilsbringers.
Der Bunker entpuppt sich als drehbares Multifunktionselement, das auf jeder Seite ein anderes Bühnenbild offenbart. Doch damit nicht genug – auf der Bunkerdecke wurde noch eine umlaufende Videoleinwand gesetzt, die der ohnehin schon sehr diversen Szenerie noch eine weitere Bildebene zufügt.
Was macht Putin da?
So wird die Oper zu einer Art Totaltheater, bei dem die russische Geschichte mit all ihren Emblemen von Ikonen über Babuschkas, Sowjetpropaganda und Volkstrachten zeitstrudelartig mit Bildern des heutigen Moskau, Werbeplakaten und Wolkenkratzern verwirbelt wird. Bei der Sitzung der Bojaren tragen einige Teilnehmer Masken mit den Konterfeis russischer Herrscher von Lenin bis Putin; während der Intermezzi werden die Seitenlogen bespielt.
Fast ausgeschlossen, das alles beim ersten Hören und Sehen einordnen zu können, zumal auch Newski in seiner ambitionierten Vertonung von Alexijewitschs Texten mehrere Sänger parallel agieren lässt. Die Überforderung wird zum Prinzip, so kann man die lautstarken Buhs innerhalb des vehementen Schlussapplauses nachvollziehen.

Auf der anderen Seite: Einen ähnlich bildstarken und inhaltlich vielschichtig verzahnten Opernabend hat man lange nicht gesehen. Gerade vor dem Hintergrund manch spartanisch reduzierter Inszenierung erscheint es legitim, die Mittel des Theaters auch einmal bis an die Grenzen auszureizen, zumal musikalisch keine Wünsche offen bleiben.
Triumph in der Titelrolle
„Boris Godunow“ ist eine Chor-Oper, und der Stuttgarter Staatsopernchor spielt und singt in den Massenszenen fulminant, dazu sind auch die zahlreichen Solo-Partien exzellent besetzt. Erwähnenswert sind Matthias Klink als Schuiski und Goran Juric als Pimen, nachgerade einen Triumph feiert der junge polnische Bass Adam Palka in der Titelrolle.
Titus Engel führt das Staatsorchester souverän durch die Partitur. Wer mutig ist, sollte sich das ansehen. Die vorherige Lektüre des Programmhefts oder der Besuch einer Einführung sind allerdings angeraten.
Weitere Vorstellungen von „Boris Godunow“ an der Staatsoper Stuttgart gibt es am 7., 16. und 23. Februar 2020, am 2. März sowie am 10. und 13. April. Informationen zu der Aufführung finden Sie hier.